»Eigenartig«, sagte Troy nun. Er setzte den Blinker und verringerte das Tempo.
Das Tor des Anwesens stand sperrangelweit offen. Einmal abgesehen von einem einzelnen Licht im Erdgeschoß, war das Haus dunkel. Als der Streifenwagen die Auffahrt hochfuhr, verwandelte die Halogenwarnleuchte das Haus in eine mondbeschienene, in Dunkelheit gebettete Hülle.
Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, klopfte Barnaby laut an die Eingangstür und klingelte gleichzeitig. Da er keine Antwort erhielt, drückte er den Türgriff herunter und trat unaufgefordert ein. Troy folgte ihm und zog dabei eine Augenbraue hoch: Sie hielten sich nicht an die Vorschriften.
Barnaby rief: »Hallo!« Stille erstickte das Wort. Das Haus schien leer zu sein.
»Gefällt mir gar nicht.« Er ging zur Treppe hinüber und rief erneut. »Hier wohnen acht Leute, wo stecken die nur alle?«
»Kommt mir wie ein Schiff auf hoher See vor, Chief, das ohne Besatzung dahintreibt.«
»Die können doch nicht alle mit dem Kleinbus weggefahren sein. Und der VW ist noch da.«
»Hören Sie!« Troy warf den Kopf zurück und blickte zum Oberlicht empor. Barnaby folgte seinem Beispiel.
»Was? Ich kann nichts hören.«
»Eine Art... Scharren...«
Ja, nun konnte er es hören. Direkt über ihnen. Als würde ein schwerer Gegenstand verrückt. Kurz darauf polterte es laut, und jemand schrie wie am Spieß.
»Auf dem Dach!« Troy rannte nach draußen. Barnaby folgte ihm ein wenig gemächlicher. Die beiden Männer entfernten sich so weit vom Haus, bis sie das Dach richtig im Blick hatten. Vergebliche Liebesmüh - oben schien sich keine Menschenseele aufzuhalten.
»Er muß auf der anderen Seite sein. Hinter den Schornsteinen. Ich werde außen rumgehen -«
»Nein - warten Sie.« Barnaby packte den Sergeant am Arm. »Sehen Sie doch - dort oben... in den Schatten.«
Zwei dunkle Gestalten, ineinander verschlungen, ringend, kämpfend, ganz dicht am Abgrund. Eine löste sich, krabbelte die Dachschräge hoch. Die andere verfolgte sie. Barnaby sah, wie etwas aufblitzte, wie Licht reflektiert wurde.
»Gütiger Gott - er hält ein verdammtes Radkreuz in der Hand -«
»Wie gelangen wir nach oben?«
»Es gibt ein Oberlicht, dann wird es höchstwahrscheinlich auch eine Treppe geben. Nehmen Sie die Galerie. Ich werde es von unten versuchen.«
»Wie wäre es mit einer Leiter?« Beide Männer hatten sich schon in Bewegung gesetzt.
»Dauert zu lange... Ich weiß nicht mal... wo ich suchen sollte...« Barnaby hielt sich an der Verandabrüstung fest. »Gehen... Sie... weiter...«
»Okay.«
Mitten in der Halle hörte Troy ein seltsames Geräusch über seinem Kopf. Ein merkwürdiges Knirschen und Knarzen, als drücke jemand mit Gewalt eine große Zellophankugel zusammen. Er blickte nach oben, und Barnaby sah, wie sich seine Miene veränderte, wie sich Schock und Unglauben auf seinem Antlitz breitmachten. Der Sergeant wich gerade noch rechtzeitig zurück. Eine Wolke aus opalisierendem Staub und funkelnden Glassplittern regnete herunter. Im Herzen dieses Glitzerregens zeichnete sich die schmale Gestalt eines blonden Mannes ab, der sich um die eigene Achse drehte, mit den Armen fuchtelte und laut schrie.
Alle saßen in der Küche. Heather hatte in der großen braunen Emaillekanne starken Tee aufgebrüht. Nicht jedermann hatte Lust auf Tee. Der am Abtropfregal lehnende Troy schüttelte den Kopf. Auch der Chief Inspector und May schlugen das Angebot aus. Nachdem sie Andrews Gesicht gereinigt hatte, tupfte sie nun eine Kampfertinktur auf seine von Schnitten übersäten Wangen und seine blutenden Lippen. Er schlürfte Tee, stöhnte ab und zu auf und warf Suhami finstere Blicke zu, als wolle er sie damit veranlassen, Anteilnahme an seinem Zustand zu zeigen.
May, Suhami und Arno waren nur wenige Sekunden nach Tims Sturz herbeigeeilt. Nachdem Suhami den Orion entdeckt hatte, hatte sie praktisch auf der Veranda geparkt und war umgehend ins Haus gerannt.
»Tim...« rufend, war sie durch die Halle geeilt, hatte sich neben ihn gekniet und vor Schreck die Hände aufs Gesicht gelegt.
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten, Miss.« Troy hatte versucht, sie zum Aufstehen zu überreden. »Der Chief Inspector ruft gerade einen Krankenwagen. Fassen Sie das nicht an«, schob er hartherzig nach, als sie die Hand nach dem Radkreuz ausstreckte.
»Aber - wie ist das passiert?« Sie schaute zu dem klaffenden Loch im Oberlicht auf. »Ist er gefallen? Was hatte er dort oben zu suchen?«
In diesem Moment war Andrew aufgetaucht, hatte sich am Galeriegeländer entlanggezogen. Blutend, mit zerrissenem Hemd, kaputter Jeans. Er hatte etwas gemurmelt. Je näher er kam, desto verständlicher wurden seine Worte.
»Mich töten... hat versucht, mich zu töten...«
Eine halbe Stunde später wiederholte Barnaby diesen Satz in Form einer Frage. Er mußte dreimal nachfragen, ehe er eine Antwort erhielt.
»Wieso? Weil er rausgekriegt hat, wer ich wirklich bin.« Wegen der geschwollenen Lippen kamen die Worte undeutlich heraus. Neugierig und verwirrt begannen die anderen Anwesenden zu murmeln.
May wischte ihre Hände an einem Mousselintuch ab und fragte: »Was meinst du damit?«
»Ich heiße nicht Christopher. Ich bin Andrew Carter. Jim Carter war mein Onkel.« Die Neugierde verwandelte sich in ' Bestürzung. Nun folgten die Kommunenmitglieder Barnabys Beispiel und bombardierten ihn mit Fragen. Es dauerte ein 'paar Minuten, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Ken war der letzte, der den Mund hielt, und zwar erst, nachdem er Andrew noch gefragt hatte, welchen Sinn es machte, sich für jemand anderen auszugeben.
Andrew erzählte von dem Brief, den Tabletten seines Onkels und daß er bei der Anhörung dabeigewesen war. »Ich wußte, jemand war mir auf der Spur«, richtete er sich an Barnaby. »Ich wußte nur nicht, wer. Das Foto, das ich Ihnen mal gezeigt habe, hatte ich unter ein paar Hemden versteckt. Irgendwann merkte ich, daß es verschoben worden war. Kurz danach hat man mich angegriffen. Beim Verlassen des Hauses warf jemand vom Dach aus einen Metallklumpen auf mich. Ich habe die anderen belogen und ihnen nicht gesagt, wo der Klumpen tatsächlich aufgeschlagen ist. Nicht auf der Platte, wo May gestanden hatte, sondern auf der dahinter.«
»Davon haben Sie mir nichts erzählt.«
»Doch, habe ich, Chief Inspector!« rief May. »Beim ersten Verhör habe ich genau diesen Vorfall erwähnt.«
»Ich glaube nicht -«
»Ich entsinne mich ganz deutlich. Mein Unfall. Als der Meteor vom Himmel fiel.«
»Ahhh. Ja.«
»Sie haben mich angewiesen, nicht abzuschweifen. Und ich wollte mich nicht stur geben. Hatte den Eindruck, es gäbe in so einem Fall eine bestimmte Vorgehensweise, die es zu befolgen gilt. In Ihrem Büro sind Sie mir ein zweites Mal über den Mund gefahren.«
Na, darauf gibt es keine passende Antwort, nicht wahr, Schätzchen? Troy ergötzte sich an der Verwirrtheit seines Chefs, gestand sich aber ein, daß er keinen Deut anders reagiert hätte.
»Aus welchem Grund haben Sie den Mund gehalten?« Der Chief Inspector betonte das »Sie« und wandte sich erneut an Andrew.
»Ich bildete mir ein, die Gegenseite würde annehmen, ich wisse nicht Bescheid, wenn ich so tat, als kenne ich den Grund für den Angriff nicht. Fatalerweise wähnte ich mich in Sicherheit.«
»Hört sich meiner Meinung nach ganz schön verworren an. Uns hätten Sie trotzdem die Wahrheit sagen können.«