»Sie wären doch nur hier aufgetaucht, hätten Fragen gestellt und alles verraten.«
»Können Sie Beweise vorlegen, daß die ganze Sache nicht doch ein Unfall gewesen ist?«
»Ich bin gleich danach aufs Dach gestiegen. Unmöglich, daß so ein großer Metallbrocken allein vom Dach fällt. Schließlich hatte er nicht dicht am Rand gelegen. Und zwischen den Schornsteinen eingeklemmt, habe ich ein Radkreuz gefunden.«
»Das, das heute nacht verwendet wurde?«
Andrew nickte. Er war müde, fertig. »Ich habe es mitgenommen und in Calypsos Stall versteckt. Gestern hat es noch dort gelegen. Als ich heute nachsah, war es weg. Mit einem Mal dämmerte mir, daß derjenige, der es genommen hat, auch derjenige war, der mich damals angegriffen hat. Tim, wie sich herausstellte.«
Die anderen tauschten verzweifelte Blicke aus. May sagte: »Du hättest uns das nicht verheimlichen dürfen, Christopher. Das war falsch.«
»Wir müssen in Zukunft darauf achten, ihn >Andrew< zu nennen«, rief Heather.
Ken fügte hinzu: »Morgen werde ich für ihn einen neuen Namen suchen.«
»Es war ja nicht so, daß ich eine große Bedrohung darstellte. Ich habe mich umgesehen, Fragen gestellt, Jims Zimmer mehrmals durchsucht und nichts gefunden.«
»Dann bist du das in jener Nacht gewesen?«
»Ja, tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe, May. Im Wegrennen hörte ich, wie dein Fenster aufging.«
»Ich bin sehr froh, daß dieses Rätsel nun gelöst ist. Und mein anderes Rätsel, Chief Inspector... der Unterhaltungs-schnipsel, den ich belauscht habe - Andrews Verdacht, daß sein Onkel getötet wurde, verleiht den Worten gewiß größere Bedeutung, oder?«
»Was für eine Unterhaltung war das?« Die Erschöpftheit schien von Andrew abzufallen. »Wer war das? Und was wurde gesagt?«
»Wer sich da unterhalten hat, ist unklar, Mr. Carter«, führte Barnaby aus. »Allem Anschein nach machten sich die beiden Gesprächspartner offenbar Sorgen wegen einer möglichen Obduktion.«
»Ich wußte es -«
»Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand den Wunsch haben sollte, Jim weh zu tun«, meinte Suhami. »Er war völlig harmlos.«
»Ich habe dir gesagt«, betonte Andrew, »daß er rausgefunden hat, was hier vorgeht.«
»Hier geht nichts vor«, widersprach Ken. »Hier herrschen Liebe, Licht und Frieden.«
»Und es wird geheilt«, schob Heather nach.
»Momentan möchte ich mich weniger auf Spekulationen einlassen«, rief Barnaby die anderen zur Räson, »sondern würde lieber versuchen, das, was sich heute abend ereignet hat, Punkt für Punkt klarzustellen. Was hat den Kampf ausgelöst? Was hatten Sie auf dem Dach zu suchen?«
»Ich war in meinem Zimmer. Ken und Heather waren ins Dorf gegangen -«
»Nur kurz«, unterbrach Heather ihn defensiv, »um Kens Bein zu bewegen.«
»Suze hat May und Arno ins Krankenhaus gefahren. Er hat einen Unfall gehabt.«
Heiliger Strohsack, dachte Troy. Würde dieser Haufen mal einen Tag ohne Unfall auskommen, glaubten sie sicher gleich, der Weltuntergang stünde bevor.
»Ich nahm einen Drink und lag auf dem Bett und las. Tim hatte ich schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Keiner von uns, mit Ausnahme von Arno. Ich denke, ich hatte ungefähr eine halbe Stunde gelesen, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief -«
»Welchen Namen?« wollte der Chief Inspector wissen.
»Meinen echten Namen, Andrew. Das war ja das Komische. Dann hörte ich, wie seine Zimmertür aufging. Deshalb bin ich auf die Galerie getreten. Klingt jetzt ziemlich doof, aber zu jenem Zeitpunkt schöpfte ich keinen Verdacht. Es war ja nur der arme alte Tim - wissen Sie? Er kam auf mich zu - mit verfilzten Haaren, bohrendem Blick - und mit dem Radkreuz in der Hand. Er... schwenkte es. Ließ es über dem Kopf kreisen. War ziemlich furchteinflößend. Ich wich zurück - mein Zimmer liegt am Ende der Galerie, und schließlich stand ich mit dem Rücken zur Tür, die zum Dach hochführt. Jetzt hatte ich nur zwei Möglichkeiten: entweder nach oben oder über das Galeriegeländer...« Suhami stieß einen kurzen Angstschrei aus.
»Natürlich saß ich auf dem Dach in der Falle. Einen Fluchtweg gibt es dort oben nicht. Zuerst versteckte ich mich hinter den Schornsteinen. Er schlug wie ein Irrer um sich - wann immer er auf etwas traf, flogen Backsteinsplitter durch die Luft. Wenn er wenigstens nicht mehr im Besitz des Radkreuzes wäre - rechnete ich mir aus -, wären wir ebenbürtig. Als die Halogenlampe anging, wurde er kurz abgelenkt, und ich wagte einen Versuch. Umklammerte das Radkreuz und ließ es nicht wieder los. Er allerdings auch nicht. Er fing an, mit den Füßen auszuschlagen. Er war ein Stück größer als ich... hatte lange Beine... jedenfalls taten seine Tritte höllisch weh. Also ließ ich los und versteckte mich wieder, kauerte mich neben dem Schornstein direkt beim Oberlicht. Er kam an mir vorbei. Blieb ganz dicht vor mir stehen, schaute sich um, versuchte mich ausfindig zu machen. Ich griff nach seinen Knöcheln. Glaubte, ihn zu Boden ziehen zu können. Aber er fiel nach hinten... durch das Glas...«
Die letzten Worte waren kaum zu hören. Die Erinnerung an seine Angst ließ sein schmales, hübsches Gesicht blaß werden. Von einer Sekunde auf die andere war es von Trauer gezeichnet. Andrew drehte ihnen den Rücken zu, als isoliere das Geständnis ihn von den anderen, als brenne es ihm ein Kainsmal auf die Stirn. Das sich daraufhin einstellende Schweigen war ungewöhnlich beklemmend. Nicht mal die Beavers wagten es, dem ein Ende zu machen. Schließlich ergriff Barnaby das Wort.
»Sie hängen also der Überzeugung an, daß Riley die Person war, die das Foto gefunden und Sie am Donnerstag angegriffen hat?« Andrew senkte den Blick. »Und für den Tod Ihres Onkels verantwortlich war?«
»Meiner Meinung nach hatte er damit was zu tun, ja. Auf der anderen Seite würde ich vermuten, daß er zu so einem Trick wie der Sache mit dem Whisky verstandesmäßig nicht in der Lage war.«
»Ich kann das alles gar nicht fassen«, gestand May. »Es ist einfach zu grauenvoll.«
Mit feuchten Augen nickten die Beavers zustimmend.
Barnaby richtete seine Aufmerksamkeit auf Arno, der sich bislang nicht geäußert hatte. Er saß ein wenig abseits, den linken Fuß - eingepackt in einen dicken weißen Verband - auf einen Metallständer gelegt. Er hatte den Alkohol noch längst nicht verdaut und außerdem noch eine Handvoll Schmerztabletten und eine Tetanusimpfung verabreicht bekommen. Ihn beschäftigte Mays ambivalente Reaktion auf seine Avancen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als habe jemand seinen Kopf in Baumwolle gebettet. Er war sich fast sicher, nicht wirklich abgewiesen worden zu sein. Andererseits war es schwierig, sich wegen des Durcheinanders in dieser Hinsicht hundertprozentige Klarheit zu verschaffen.
Trotz des von Medikamenten und Alkohol vernebelten Verstandes und den Träumen, denen er nachhing, spürte er, daß jemand etwas von ihm wollte, und bemühte sich, einigermaßen klar zu werden. Der Chief Inspector starrte ihn - so deutete Arno Barnabys Blick - anklagend und fragend an. Schlagartig fühlte er sich beschissen. Alles war genau so gekommen, wie er es seit langem befürchtet hatte.
»Tut mir leid...« Nun schauten alle zu ihm hinüber, sogar May. O Gott - selbst May. »Ich fürchte, ich habe nicht zugehört.«
Barnaby wiederholte seine Aufforderung. »Ist es nicht an der Zeit, daß Sie mit der Wahrheit rausrücken, Mr. Gibbs?«
»Wieso sagen Sie das zu mir?« Arnos Gesicht nahm die Farbe seiner Bandage an.
»Ich denke, Sie kennen die Antwort.« Barnaby legte eine Pause ein; als Arno beharrlich schwieg, fuhr er fort: »Ich frage Sie, weil Sie sich ganz offensichtlich Sorgen um den Jungen gemacht haben. Weil Sie versucht haben, mich davon abzuhalten, mit ihm zu sprechen, und Sie mir im Verlauf des eigentlichen Verhörs permanent dazwischengefunkt haben.« Da Arno auch jetzt noch nicht zum Sprechen zu bewegen war, übte er stärkeren Druck aus. »Nur zu, Mr. Gibbs. Jetzt kann ihm keiner mehr weh tun.«