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  »Nein.« Arno hob den Blick. »Das ist wahr.« Zögernd begann er mit seiner Erklärung und schaute dabei Andrew an.

  »Der Tod deines Onkels war, wie ich meine, ein Unfall, wenngleich ich fürchte, ein Richter könnte das anders sehen. An jenem bewußten Tag wollten wir zu dritt in die Stadt fahren, wie ich das bei der Anhörung ausgesagt habe. Tim und ich stellten frische Blumen in den Solar, während wir auf den Meister warteten, der Tims Mantel holen wollte. Plötzlich hörten wir laute Stimmen. Ich rannte los, um nachzusehen, was da los war. Der Meister kam aus Tims Zimmer, gefolgt von Jim. Sie stritten miteinander. Was mich erstaunte, zumal ich Jim bis dahin noch nie so erlebt hatte. Auf dem Treppenabsatz blieben sie stehen. Jim versperrte dem Meister den Weg und rief: >Ich werde dir das nicht erlauben. Ich werde allen verraten, was ich weiß - allen.< Er packte den Meister an den Schultern, als habe er vor, ihn zu schütteln. Als nächstes - das passierte so schnell, daß ich gar nicht reagieren konnte - hörte ich... tja, wie soll ich es beschreiben... lautes Gebrüll, und Tim lief die Galerie runter, packte Jim und schob ihn weg. Dabei fiel er rückwärts die Stufen hinunter und brach sich das Genick.« Beim Sprechen hatte Arno nach und nach den Blick wieder zu Boden gesenkt. Jetzt jedoch zwang er sich, Andrew Carter anzublicken. »Er hat nicht gelitten. Daß das kein großer Trost ist, weiß ich.«

  »Du hast recht. Das ist es nicht.«

  »Nachdem klar war, daß wir nichts mehr für ihn tun konnten - und wäre dem so gewesen, hätten wir alles in unserer Macht Stehende getan -, dachten wir beide nur noch daran, Tim vor der Polizei zu schützen. Wir wußten, daß die Polizei etwas unternehmen mußte, auch wenn der Junge nicht die Absicht gehabt hatte, jemandem Schaden zuzufügen. Der Meister rechnete damit, daß Tim des Totschlags beschuldigt und als... falls das die richtige Bezeichnung ist... >nicht zurechnungs-fähig< befunden werden würde. Auf jeden Fall hätte er ins Gefängnis gemußt, man hätte ihn womöglich sogar mit anderen zusammen in eine Zelle gesperrt, mit solchen Typen, die ihm früher weh getan haben. Oder man hätte ihn in eine Anstalt überwiesen. Ihn mit Medikamenten vollgepumpt, um ihn ruhigzustellen ... da hätte er dann Monate oder vielleicht sogar Jahre mit Wahnsinnigen zugebracht. Er war doch erst dreiundzwanzig!« rief Arno leidenschaftlich, »und hier war er so glücklich. Wir bildeten uns ein, daß etwas in der Art nie wieder passieren würde, wenn wir uns permanent um ihn kümmerten. Jetzt weiß ich«, richtete er sich an Barnaby, »vor allem nach dem heutigen Abend, daß ich mich getäuscht habe.«

  »Und wie Sie sich getäuscht haben, Mr. Gibbs.« Barnaby bemühte sich, die Stimme nicht zu heben. Er war wütend auf Gibbs und noch wütender auf sich selbst. Beim Verhör von Tim hatte er peinlichst darauf geachtet, den Namen des Meisters nicht zu erwähnen, um den Jungen nicht in die Enge zu treiben. Jetzt - zu spät - wurde ihm klar, daß der verunsicherte Junge mit dem »Unfall« nicht Craigies Tod, sondern den ersten Todesfall auf Manor House gemeint hatte. »Sie wissen hoffentlich, daß Meineid als kriminelle Handlung geahndet wird.«

  »... Ja...«, flüsterte Arno. Er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mit zitternden Fingern suchte er nach einem Taschentuch.

  Kalt musterte Barnaby den verstörten Mann. In dem Wissen, daß er Gibbs nicht anzeigen würde, hielt er es nicht für einen Fehler, ihn ein, zwei Tage schwitzen zu lassen. Oder eventuell sogar ein oder zwei Wochen.

  »Fahren Sie fort. Was geschah als nächstes?«

  »Wir brachten Tim in den Garten. Er war verängstigt, weinte. Und wir überlegten, was zu tun war. Nach einer Weile kamen wir zu dem Entschluß, es wäre am einfachsten und vernünftigsten, einfach nach Causton zu fahren, wie geplant unsere Einkäufe zu erledigen, dann nach Hause zu kommen und so zu tun, als wüßten wir von nichts. Daß May - Miss Cuttle - vor uns zurückkehrte, hat uns beiden sehr zugesetzt. Der Meister führte Tim zum Kleinbus, und ich wollte den beiden gerade folgen, als ich auf einmal in Panik geriet. War felsenfest davon überzeugt, daß niemand uns Glauben schenken würde. Ganz und gar unwahrscheinlich, daß jemand grundlos die Treppe runterfällt, die er schon hundert Mal benutzt hat. Und da kam mir eine Idee - was, wenn er getrunken hatte? In unserem Medizinschränkchen gab es eine kleine Flasche Whisky, die ich holte. Davon goß ich Jim etwas in den Mund... ich mußte seine Lippen schließen und seinen Hals massieren, damit das Getränk die Kehle hinunterfloß.« Arno erschauderte. »Es war gräßlich. Am Ende schob ich noch den Läufer auf der Treppe hoch, damit es so aussah, als ob er gestolpert sei. Auf dem Rückweg weihte ich den Meister ein. Er regte sich sehr auf. Wiederholte immer wieder, daß ich das nicht hätte tun dürfen. Erst ein paar Tage später, als er merkte, wie unglücklich ich war, erläuterte er mir den Grund für seine Aufregung. Er sagte mir, daß die Medikamente, die Jim gegen seine Infektion nahm, ihm verboten, auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich zu nehmen. Nun fürchtete er, daß - falls eine Obduktion vorgenommen wurde -«

  An dieser Stelle stockte May hörbar der Atem. Sie warf Barnaby, der ihr sofort zu verstehen gab, nichts zu sagen, einen vielsagenden Blick zu.

  »- sie uns auf die Schliche kommen und wissen würden, daß etwas nicht stimmte. Einige Tage später wurde die Obduktion gemacht und nichts gefunden, und ich war unglaublich erleichtert. Für mich war das ein Zeichen, daß ich vielleicht doch nicht ganz falsch gehandelt hatte.«

  »Inspector«, sagte May, »bestimmt begreifen Sie, daß Arno selbstlos gehandelt hat. Er hat das Falsche getan, ja, aber aus Gründen, die richtig waren. Er hat aus Liebe zu einem menschlichen Wesen gehandelt.«

  Diese unerwartete, großzügige und völlige unverdiente Unterstützung bewegte Arno zutiefst. Vor lauter Dankbarkeit konnte er kaum atmen.

  Heather nutzte die Pause, um frischen Tee zu kochen, während Ken seinen Gips verrückte und es sich im Rollstuhl bequemer einrichtete. In seinen Augen war Arnos leichter Verband keine Konkurrenz im Vergleich zu seiner heroischen Tat, und er war beileibe nicht gewillt, ihm das Feld zu überlassen.

  May stellte die Salbe weg und überlegte, ob sie nach Felicity sehen sollte. Das Schlafmittel war leicht gewesen, und vielleicht war sie inzwischen wieder wach und sorgte sich. Suhami sammelte die Tassen derer ein, die Tee nachgeschenkt haben wollten. Vorsichtig legte sie Andrew die Hand auf die Schulter, lächelte ihm zu und stellte eine volle Tasse'vor ihn. An seiner Seite zu bleiben, dazu war sie allerdings nicht zu bewegen. Insgeheim hatte er gehofft, sein Aussehen würde sie derart erschrecken, daß ihre Zuneigung zu ihm erneut erhört wurde. In diesem Fall hätte der Vorfall auf dem Dach, der schreckliche Unfall, wenigstens einen Sinn gehabt.

  Diesmal nahm Troy die angebotene Tasse Tee dankbar entgegen, sein Chef hingegen schlug das Angebot erneut aus.

  »Jims Tod mag ein Unfall gewesen sein«, sagte Heather, nachdem alle bedient worden waren, »aber der Angriff auf Chris -Entschuldigung, Andrew - wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, Tim ist auf den Geschmack gekommen. Das kommt doch vor, nicht wahr?«

  »Wie gemein von dir, so was zu sagen!« erwiderte Suhami erzürnt. »Er ist gerade gestorben, gütiger Gott. Das wenigste, was wir tun können, ist, nett über ihn zu sprechen.«

  Heather errötete. Daß ihre Reputation als ewige Quelle anteilnehmender Fürsorge einen Kratzer bekam, behagte ihr nicht. »Ich finde nicht, daß du in der Position bist, mich anzugreifen, Suhami. Wärst du nicht gewesen, wäre der Meister heute noch am Leben.«

  Suhami schnappte nach Luft und erblaßte. Andrew meldete sich erbost zu Wort- »Sie war von Anfang an gegen den Besuch ihres Vaters. Es war der Meister, der darauf bestanden hat.«