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Dann schwieg sie, und das Gefühl, eine Frau zu sein, besiegte den letzten Rest von Reue -

Am übernächsten Tag holte Ernst Dahlmann seine Frau Luise nach Hause. Er führte sie zärtlich zum Wagen, küßte sie auf die Stirn und sagte:

»Es ist schön, daß du zurückkommst, Luiserl.«

Sie lächelte und streichelte seine Hand.

»Jetzt brauche ich dich doppelt, Ernst -«

»Ich weiß, Luiserl.« Er küßte sie auf die trüben Augen. »Ich werde immer für dich dasein . das weißt du -«

Sie lehnte sich in die Polster zurück und nickte.

»Das macht mir ja alles so leicht«, sagte sie leise. »Wenn ich euch nicht hätte . dich und Monika -«

Kapitel 6

Sechs Monate sind kein Begriff mehr, wenn es dauernd Nacht ist. Die Zeit wird lediglich ein Geräusch . wenn der Wecker in der Nachttischschublade klingelt, ist es sieben Uhr morgens . wenn Monika kommt und beim Anziehen hilft, ist es halb acht . die Post kommt um zehn . um halb elf kommt ein Lehrer, der mit unendlicher Geduld die Blindenschrift lehrt . um ein Uhr wird gegessen . dann Schallplatten, Radio, Monika erzählt, ein Spaziergang durch den Schnee . man spürt die Wintersonne auf der Haut . und der Abend ist da, wenn Ernsts Stimme um sie ist, wenn er vom Tage erzählt, von lästigen oder lustigen Kunden, wenn man Wein trinkt und eine Zigarette raucht, einer Oper zuhört oder einem Theaterstück, bei dem die Phantasie mitspielt, wenn man aus den Worten vor dem inneren Auge die Handlung rekonstruiert.

Wieder ein Tag herum . das ist ein Gedanke, wenn sie wieder im Bett liegt. Nur ein Gedanke, kein Zeitbegriff mehr. Aber eine Sehnsucht ist da . eine nie gekannte wilde Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Dann tastet sie nach ihm, sucht ihn, hält ihn fest.

Ernst Dahlmann war von einer erstaunenswerten Geduld und Zärtlichkeit Luise gegenüber. Selbst Dr. Ronnefeld, der oft erschien und nach ihr sah, wunderte sich darüber, wie mit der Endgültigkeit der Blindheit auch bei Dahlmann eine Wandlung zum Besseren vor sich ging. Kein Wunsch blieb unerfüllt . er führte sie in die Oper, fuhr mit ihr über Land, nur damit sie das Rauschen der Bäume hörte, das Gurgeln des Flußwassers, das Tropfen der Nässe von den Zweigen, das Singen der Vögel, das Brummen der Kühe und das Schnattern der Gänse.

»Wie lieb du bist«, sagte sie immer wieder und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich merke gar nicht, daß ich nichts sehe. Durch dich sehe ich alles -«

Ein paarmal wachte sie nachts auf und tastete zur Seite. Das Bett Ernst Dahlmanns war leer, die Decke zurückgeschlagen. Am Morgen erzählte er, daß die Apotheke Nachtdienst hatte und einige Rezeptabholer gekommen seien.

»Erst ab vier Uhr morgens war es still«, sagte er mit seinem sarkastischen Lachen. »Daß die Leute auch immer nachts krank werden müssen -«

Es waren die Nächte, die er bei Monika verbrachte, wilde, rasende Stunden, die den ganzen folgenden Tag in ihm nachzitterten. Wie betäubt kam er gegen Morgen in das eheliche Schlafzimmer zurück, starrte auf das Gesicht Luises mit den Operationsnarben, die wie kleine, weiße Kanäle durch ihre Haut zogen, sah ihren schönen, fraulichen Körper und empfand bei diesem Anblick nichts als eine läh-mende Gleichgültigkeit. Dann graute ihm vor dem neuen Tag, vor dem Versteckspielen, vor der Heuchelei von Sorge und Liebe, vor diesen großen, toten Augen, die ihn ansahen und doch nicht sahen, die seinen Gang verfolgten nach dem Klang seiner Schritte und die wie verblichene Perlmuttknöpfe in einem Gesicht saßen, das lächeln konnte, während er vor ihnen stumm Monika in die Arme zog und sie küßte.

»Was tust du jetzt, Ernst?« fragte sie einmal.

Da ließ er Monika los und sagte: »Ich stehe am Blumenfenster und gieße die Blumen.«

»Wirklich . ich rieche die feuchte Erde.« Sie hob die Nase und schnupperte. »Die Alpenveilchen aber nur von unten gießen, ja?«

Das waren Situationen, die Monika um die Fassung brachten. Jedesmal lief sie dann hinaus, und es kostete Ernst Dahlmann viel Mühe, sie zu beruhigen.

»Schufte sind wir!« schrie sie ihn in ihrem Zimmer an. »Ganz gemeine Schufte! Ich halte das nicht länger aus. Ich habe diese Nerven nicht!«

In der Nacht überspülte sie von neuem seine Zärtlichkeit, und sie ertrank im Vergessen.

Ein halbes Jahr ging so dahin. Luise Dahlmann war glücklich.

An einem Frühsommertag entging Dahlmann nur durch Glück einer Katastrophe. Es war nach dem Mittagessen. Luise saß im Wohnzimmer an ihrem Sekretär, vor sich eines der dicken Bücher mit der Brailleschen Blindenschrift. Immer wieder glitten ihre Fingerspitzen fast zärtlich über die hochstehenden Punkte, tasteten die Buchstaben ab, die Worte, die Satzgruppen. Ernst Dahlmann und Monika Horten saßen eng umschlungen auf dem Sofa vor dem Blumenfenster und küßten sich. Es war warm im Raum, und es war Frühling, und sie zitterten innerlich, als sie sich berührten. Die Stimme Luises riß sie empor aus ihrer lautlosen Seligkeit.

»Ernst -«, sagte sie. »Ernst -« Ihr Kopf wandte sich dem Blumenfenster zu. Sie wußte: Nach dem Essen sitzt er immer auf dem Sofa und liest in aller Stille die Tageszeitungen.

»Ja, Luiserl.« Dahlmann bemühte sich, seinen keuchenden Atem zu unterdrücken.

»Ich kann schon einen Satz lesen . einen ganzen, richtigen Satz.« Ihr Gesicht war überstrahlt von einer tiefen, inneren Freude. »Soll ich ihn dir einmal vorlesen?«

»Ja -«

»Hier steht.« Ihre Finger glitten lesend über die Punkte, der Kopf war leicht geneigt, als müsse sie nicht nur tasten, sondern auch hören. »Es war - an - einem - Sommertag - Komma - als - Friedrich -zum - erstenmal - dem - Mädchen - begegnete - Punkt -« Ihr Kopf schnellte hoch. »Ernst. Ich kann lesen . ich kann mit meinen Fingern lesen.«

Das war der Augenblick, an dem Monika Horten die Nerven verlor. Sie schluchzte auf, stieß Ernst mit beiden Fäusten von sich und rannte aus dem Zimmer. Laut schlug die Tür hinter ihr zu. Luises Gesicht wurde ernst und fragend.

»Was hat sie, Ernst? Was war das?«

Dahlmann schluckte krampfhaft. Dann versuchte er zu lachen. Es war, als müsse er beim Aufheben eines riesigen Bleiklumpens pfeifen.

»Gestochen hat sie sich. An der großen Kaktee . weißt du, die ganz links steht. Und weil ich gegrinst habe, war sie so wütend.«

»Du bist ein Unmensch, Ernst.« Sie lächelte wieder und schüttelte den Kopf. »Immer mußt du Moni ärgern. Warum denn? Vertragt euch doch! Sie hilft mir doch so selbstlos. Kannst du nicht freundlicher zu ihr sein?«

»Ich will's versuchen«, sagte Dahlmann gepreßt. »Ich geh mal und sehe zu, was sie macht, ja?«

»Das ist nett.« Sie nickte ihm zu. »Ich übe weiter lesen -«

Monika Horten packte die Koffer, als Dahlmann in ihr Zimmer kam. Mit einer Handbewegung fegte er die Kleider auf den Boden. »Was soll der Blödsinn?« rief er.

Monika ballte die Fäuste und hielt sie ihm drohend entgegen. »Ich kann nicht mehr!« schrie sie. »Ich kann einfach nicht mehr! Du bist der größte Lump, der denkbar ist.«

»Ich liebe dich!« Er schloß die Tür hinter sich ab und senkte den Kopf. Monika wich zurück bis zum Fenster.

»Du bist ein Tier!« schrie sie.

»Moni -«

»Wenn du mich anrührst, springe ich aus dem Fenster!«

»Was wäre damit gewonnen?«

»Ich hätte Ruhe, endlich Ruhe! Ruhe vor dir und Ruhe vor meinem Gewissen!«

Ernst Dahlmann blieb an der Tür stehen. Er wußte, daß jeder Schritt vorwärts eine Katastrophe auslösen würde. Monika war in einer seelischen Verfassung, in der sie nicht mehr klar überblickte, was sie tat. Ihre herrlichen blauen Augen waren starr und gläsern.

»Moni -«, sagte er mit aller Zärtlichkeit. »Moni ... wir lieben uns doch -«

»Es ist Schuftigkeit. Es ist . ist . mein Gott, dafür gibt es gar kein Wort -«