Der Kapitän verließ mein Büro, und ich versank in Gedanken. Zuerst schien mir, ich sollte die Tobindona sofort inspizieren, doch ich verwarf diesen Gedanken rasch, da ich fürchtete, mich im Hafen zu verlaufen. Mit Schiffen und der Seefahrt kenne ich mich nicht aus.
Für einen erfolgreichen Besuch im Hafen brauchte ich die Unterstützung von Kofa oder Melifaro. Vielleicht sollte ich das Ganze auch mit meinem Chef besprechen, der mich allerdings gebeten hatte, ihn bis zum Mittag nicht zu stören. Aber ich hatte ja Zeit bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages.
Ich ließ einen jungen Diener meinen Schreibtisch abräumen und staunte, wie schnell er das erledigte. Dann schob ich einen zweiten Stuhl heran, legte die Beine hoch und döste behaglich ein. Melifaros Lochimantel, den ich noch immer nicht gegen meinen Todesmantel gewechselt hatte, erwies sich trotz seiner schreienden Farbe als wunderbare Decke.
Als Sir Kofa mich weckte, war es noch dunkel.
»Wenn du schlafen willst, tu das in aller Ruhe zu Hause«,
brummte er. »Ich muss mir vieles durch den Kopf gehen lassen. Also verzieh dich.«
Natürlich blieb keine Zeit, ihm von Kapitän Gjata zu erzählen. Ich war so müde, dass ich nur mühsam einen Dank hervorbrachte. Dann schlich ich zur Fahrbereitschaft. Der Chauffeur staunte, denn schon lange hatte ich seine Dienste nicht mehr genutzt, doch in meiner Verfassung konnte ich mich unmöglich ans Steuer setzen.
Leider fuhr er mich an die falsche Adresse, setzte mich also nicht bei Techi, sondern vor meiner Wohnung ab, was mir allerdings erst auffiel, als er schon um die Ecke gebogen war.
Achselzuckend ergab ich mich in mein Schicksal und stolperte zum Armstrong und Ella, das zum Glück nicht weit entfernt lag - auch wenn ich im Gehen einzuschlafen drohte und mir der Weg eine Ewigkeit zu dauern schien.
Ich bin wirklich kindisch, dachte ich, als ich Techis Schlafzimmer betrat. Es ist doch egal, wo man schläft. Doch als ich mich in ihre warme Bettdecke wickelte, merkte ich den Unterschied.
Obwohl ich todmüde war, fand ich keinen Schlaf, sondern dachte die ganze Zeit an das Gespräch, das ich kürzlich mit ihr geführt hatte. Zu erfahren, dass sie Echo nicht verlassen darf, war keine angenehme Neuigkeit gewesen. Ich hatte seit längerem vor, Juffin um ein paar Sorgenfreie Tage zu bitten, damit wir nach Kettari reisen konnten. Ich wollte unbedingt mit ihr durch die Stadt gehen, ihr die vielen Brücken und Gärten zeigen und an dem Ufer flanieren, an dem es mir so gut gefallen hatte. Auch hoffte ich, mit ihr in die kleine Stadt in den Bergen zu fahren, die ich aus meinen Träumen kannte und die inzwischen Wirklichkeit geworden war. Wenn ich Machi Ainti - dem ehemaligen Sheriff von Kettari - glauben durfte, hatte ich diese Stadt sogar selbst erschaffen.
Bisher hatte ich gedacht, ich könnte Techi dorthin einladen. Vielleicht würde es mir aber stattdessen gelingen, meinen Traum von dieser Stadt mit ihr zu teilen. Etwas Ähnliches hatte ich immerhin schon mit Schürf erlebt, als wir den Kopf aufs gleiche Kissen gelegt hatten. Damals hatte Sir Juffin mit ein wenig Magie nachgeholfen, aber inzwischen hatte ich womöglich genug Großtaten vollbracht, um mir eine solche gemeinsame Traumreise ohne seine Hilfe zuzutrauen. Das wäre auch eine originelle Methode, meine Freundin auf einen Spaziergang einzuladen.
Ich bettete den Kopf auf ihr Kissen. Eine ihrer Silberlocken kitzelte mich, und ich schob sie beiseite. Gähnend schloss ich die Augen und schlief im Honigduft ihres Haars ein. Manchmal ist der Einstieg in ein Abenteuer erstaunlich leicht.
Ich träumte, einen Hügel zu ersteigen. Es war heiß, für meinen Geschmack zu heiß. Unter den Füßen knisterte sonnenverbranntes Gras, und das Gehen fiel mir schwer. Schon nach wenigen Schritten begann ich zu ahnen, dass der Hügel nicht annähernd so klein war, wie ich angenommen hatte. Trotzdem ging ich weiter, ohne zu wissen, warum.
Irgendwann erreichte ich die Anhöhe, wischte mir den Schweiß von der Stirn und blickte mich um. Ringsum erstreckte sich eine hügelige, seltsam abweisend wirkende Landschaft. Das Gras raschelte leise im heißen Wind. Nirgendwo waren Bäume, Büsche oder Wasserläufe zu entdecken. Ich stand inmitten eines erstarrten Ozeans aus Gras, und über mir wölbte sich ein erdrückend blauer Himmel.
»Hier gefällt es dir, was, Max?«, fragte eine freundliche Stimme hinter meinem Rücken.
Wenn ich nicht geträumt hätte, wäre ich schreiend davongelaufen, doch wenn mir solche Ereignisse im Schlaf widerfahren, bleibe ich erstaunlicherweise völlig gelassen. Ich drehte mich nicht mal um, denn ich wollte den Blick nicht von der herrlichen Landschaft wenden.
»Das weiß ich noch nicht, denn das ist nicht mein Traum«, sagte ich, ohne zu wissen, mit wem ich sprach.
»Natürlich ist das nicht dein Traum«, pflichtete mir mein unbekannter Gesprächspartner bei. »Und meiner auch nicht. Das ist nur die Fantasie einer dir wohlbekannten Träumerin, aber hier lässt es sich ganz gut leben. In letzter Zeit habe ich viel Zeit auf diesem Hügel verbracht und kann das sicher sagen. Warum drehst du dich nicht um? Ich bin nicht das schlimmste Wesen im Weltall -auch wenn Magister Nuflin Moni Mach das anders sehen mag.«
»Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin hier ungemein träge«, sagte ich schuldbewusst. »Schon von Natur aus bin ich ziemlich faul, aber in diesem Fall bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, mich umzudrehen.«
Während ich sprach, gelang es mir endlich, den Blick von der Landschaft loszureißen und mich meinem Gesprächspartner zuzuwenden.
Er saß auf einem flachen Stein, der in allen Honigfarben schillerte. Vielleicht handelte es sich wirklich um echten Bernstein. Der Mann war von schwer zu schätzender Körpergröße und trug eine einfache weiße Hose und ein entsprechendes Hemd. Außerdem hatte er uguländische Schuhe aus rotem Leder an. Trotz seiner mageren, mit hervortretenden Adern gespickten Arme hatte er kräftig wirkende Hände. Irgendwie fand ich ihn lustig. Er war kein durchgestylter Strandurlauber, aber auch kein aufgeputzter Dandy. Sein Gesicht war hinter langen dünnen Haaren verborgen, aber all das spielte keine Rolle, denn ich wusste sofort, mit wem ich es zu tun hatte.
»Sie sind Sir Lojso Pondochwa!«, rief ich. »Der Große Magister des Ordens der Wasserkrähe. Können Sie mir vielleicht erklären, warum Ihr Orden so einen seltsamen Namen hat? Bisher konnte mir das niemand sagen, aber ich wusste, dass ich Sie irgendwann treffen und diese Frage mit Ihnen klären würde.«
»Wirklich? Warum warst du dir dessen so sicher?«, wollte der Unbekannte erstaunt wissen.
»Täglich erwähnt jemand aus meiner Umgebung Ihren Namen«, erklärte ich.
»Na und? Menschen erinnern sich an vieles.«
Zwar wollte ich ihm alles erklären, aber das war wirklich schwer. »Ich habe stets unangemessen reagiert, wenn Ihr Name gefallen ist«, begann ich. »Entweder habe ich wie verrückt gekichert, oder meine Laune hat sich gewaltig verschlechtert. Hätte ich nicht geahnt, Ihnen einmal zu begegnen, dann hätte nicht schon die Erwähnung Ihres Namens solche Reaktionen bei mir ausgelöst.«
Ich staunte nicht schlecht, wie gut es mir gelungen war, all das in Worte zu fassen.
»Wie interessant«, sagte Lojso Pondochwa. »Ich hatte noch nie eine Vorahnung. Deshalb kann ich kaum nachvollziehen, um was für ein Gefühl es sich da handeln mag.«
Endlich schob er seine Haare zur Seite und sah mich mit hellen Augen an. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, und nach einigen Sekunden wusste ich, warum: Es war mein eigenes. Na ja, beinahe, denn Sir Lojso sah aus, wie ich in jungen Jahren gern ausgesehen hätte. Damals hatte ich geglaubt, eine kleine Nasenkorrektur, ein energischeres Kinn und eine etwas andere Augenfarbe könnten mir ein neues, viel aufregenderes Leben bescheren.
Diese Entdeckung schockierte mich, doch dann erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Juffin. Erst vor kurzem hatte er mir ausführlich von diesem seltsamen Mann berichtet. Zunächst hatten wir uns über Techi unterhalten, denn laut Juffin waren alle Kinder von Lojso Pondochwa Spiegel, Wesen also, die sich ihrem Gesprächspartner chamäleongleich anpassten. Er hatte damals gesagt, wenn er Techi im Gespräch mit mir sehe, glaube er an Persönlichkeitsspaltung. Dann hatte er hinzugefügt, der beste Spiegel sei Lojso Pondochwa gewesen. Noch nie war ich mit meinem Chef so sehr einer Meinung wie heute.