Die beiden glitten weiter, indem sie ihre gewichtslosen Körper an den eigens dafür angebrachten Wandgriffen weiterhangelten. In Sekundenschnelle waren sie durch die Kontrollraumtür – Ken hatte sich gut an die neue Schwerkraft, notfalls sogar an eine gar nicht vorhandene, gewöhnt.
Drais Vermutung erwies sich als richtig. Der Antrieb war auf Null, und der Mars hing vor den Fenstern. Für sarrianische Augen war er noch matter erhellt als die Erde. Und es war deutlich sichtbar, daß er eine Atmosphäre hatte. In diesem Fall aber war die atmosphärische Hülle viel dünner. Sie waren schon zu nahe dran, um die sogenannten Kanäle ausmachen zu können, die sich bei Einsatz geeigneter Beobachtungsmittel als Flußtäler entpuppen, aber sogar Flüsse waren für die Sarrianer etwas Neues. Sie waren auch schon zu nahe, um die Polkappen zu sehen. Erst als die Karella südwärts trieb, kam ein ausgedehntes weißes Gebiet in Sicht. Die Polkappe war nicht annähernd so groß wie zwei Monate zuvor, stellte aber auch in ihrer gegenwärtigen Größe für die staunenden Beobachter ein unbekanntes Phänomen dar.
Genauer gesagt ein fast unbekanntes Phänomen. Ken umfaßte mit einem Tentakel jenen Drais.
»Auf Planet Drei war ein ähnlicher weißer Fleck! Ich erinnere mich ganz genau! Also besteht doch irgendeine Ähnlichkeit.«
»Zwei weiße Flecken«, erwiderte Drai. »Möchten Sie dort Bodenproben entnehmen? Wir wissen ja nicht, ob das die Stellen sind, wo auf Planet Drei Tafak wächst.«
»Ich glaube nicht, daß dies die Stellen sind. Aber ich möchte trotzdem wissen, wie das Zeug aussieht. Wir können am Rand des weißen Gebietes niedergehen und Proben von allem mitnehmen, was wir finden. Lee?«
Der Pilot hatte seine Zweifel, zeigte sich dann aber doch einverstanden und drang vorsichtig in die Atmosphäre ein. Eine Landung wollte er erst wagen, wenn er festgestellt hatte, wie schnell die Luft dem Schiffsrumpf Wärme entzöge. Weder Drai noch Ken widersetzten sich dieser Forderung, und plötzlich nahmen die weißen, braunen und grünlichen Flächen unter ihnen das Aussehen von Landschaften an anstatt von einer bemalten, vor dunklem Hintergrund hängenden Scheibe.
Die Atmosphäre sollte sich sozusagen als Täuschung erweisen. Als das Schiff knapp dreißig Meter über der Oberfläche schwebte, zeigten die Druckmesser keine Neigung, sehr weit über Null hinauszugehen. Der Druck betrug ein Fünfzigstel Sarr normal. Ken gab dem Piloten diesen Wert an, Ordon Lee aber weigerte sich zu landen, ehe er nicht volle fünfzehn Minuten seine Pyrometer beobachtet hatte. Nachdem er festgestellt hatte, daß der Wärmeverlust nur so groß war, daß er ausgeglichen werden konnte, ging er auf einem mit dunklem Sand bedeckten Fleck nieder. Er hörte mit gemischten Gefühlen, wie der Rumpf sich ächzend dem veränderten Ladegewicht und dem begrenzten Wärmeverlust anpaßte. Befriedigt wandte er sich Ken zu.
»Also, wenn Sie eine Besichtigungstour machen wollen, dann los. Ich glaube nicht, daß Ihr Anzug mehr leiden wird als das Schiff. Am ehesten werden Sie mit den Füßen Ärger bekommen. Der Wärmeverlust durch die Luft ist nicht der Rede wert. Aber wenn Sie kalte Füße kriegen sollten, verlieren Sie bloß keine Zeit – dann nichts wie rein.«
Ken warf Drai einen boshaften Blick zu. »Zu schade, daß wir nicht zwei Raumanzüge dabei haben. Sicher wären Sie gern mitgekommen.«
»Nie im Leben!« stieß Drai hervor. Da lachte Ken lauthals los. Seltsamerweise war seine anfängliche Angst vor der fürchterlichen Kälte dieser Solar-Planeten wie weggeblasen. Im Gegenteil, er konnte es kaum erwarten, den Test zu machen. Mit der Hilfe Drais und Lees stieg er in den Anzug, den sie von Merkur mitgebracht hatten, verschloß ihn luftdicht und unterzog die verschiedenen Arbeitseinheiten einer Probe. Dann betrat er die Luftschleuse der Karella. Er behielt nun seine Instrumente genau im Auge, während die Schleuse leergepumpt wurde. Alles in Ordnung. Er betätigte den Schalter, der den Motor der Außentür steuerte.
Während er die Marslandschaft nun vor sich sah, war er in Gedanken bei der sonderbaren Verfärbung des Anzugs, der der Atmosphäre von Planet Drei ausgesetzt war. Er fragte sich, ob hier etwas Ähnliches passieren würde.
Seltsamerweise versuchte in einer Entfernung von über zweihundert Millionen Kilometer ein dreizehnjähriger Junge sich einen Reim auf ein Feuer zu machen, das an einem Abhang sechs Kilometer vom Haus entfernt ein von blankem Fels isoliertes Gebüsch verbrannt hatte.
XI
Auch für Erdenbewohner stellt der Mars keine Welt dar, die einen zu Begeisterungsstürmen hinreißen könnte. Er ist zu seinen besten Zeiten viel zu kalt, viel zu trocken, und es mangelt dort an Luft, an atembarer und anderer. Der erste und der letzte dieser Punkte trafen Ken am heftigsten.
Das Gelände vor ihm war völlig eben. Und es war von uneinheitlicher Beschaffenheit. An manchen Stellen trat blanker Fels zutage, doch waren diese Stellen selten und kamen in großen Abständen vor. Der Großteil des Geländes war von dunklem, nacktem Erdreich bedeckt, mit grünen, braunen, roten und gelben Flecken durchsetzt. Ebenso häufig waren die weißen Flecken, die aus dem All wie eine feste Masse ausgesehen hatten. Ken merkte nun, daß sie zur Mitte der weißen Region hin eine zusammenhängende Decke bildeten. Das Schiff war wie geplant am Rande dieser Region gelandet.
Vorsichtig tat er einen Schritt vom Schiff weg, Die Schwerkraft war geringer als auf Sarr, aber eindeutig größer als auf Merkur. Der Raumanzug drückte ihn wie eine schwere Last. Die zwei Tentakel innerhalb des rechten ›Ärmels‹ brachten das Stahlrohr fast bis zum Boden hinunter und bewegten die Greifhaken. Mühsam scharrte er ein wenig von der dunkelbraunen Substanz los, um sie auf Augenhöhe zu heben. Er blockierte die ›Knie‹ seines Anzugs und ließ sich auf die schwanzähnliche Stütze nieder, die rückwärts aus dem Metallrumpf ragte, damit er in aller Ruhe die Probe begutachten konnte.
Das Glas seiner Gesichtsplatte zeigte keine Anzeichen von Differentialschrumpfung, doch vermied er es sorgfältig, die Erde damit in Berührung zu bringen. Fast hätte er seine Vorsicht vergessen, als er die winzigen vielfarbigen Objekte auf der Oberfläche der Probe entdeckte. So ungewöhnlich sie der Form nach waren, so waren es doch fraglos Pflanzen – winzig und seltsam weich, verglichen mit den kristallinen Gewächsen auf Sarr, aber dennoch Pflanzen. Und sie konnten in dieser schrecklichen Kälte existieren! Diejenigen, die dem Metall seiner Greifer am nächsten waren, schrumpften und wellten sich, so kalt mußte die Außenseite seines Anzugs sein. Ken berichtete alles getreulich den Zuhörern im Schiffsinneren.
»Diese Lebensformen müssen etwas mit jenen auf Planet Drei gemeinsam haben«, setzte er hinzu. »Beide müssen auf Grund desselben chemischen Prozesses leben, da der Temperaturunterschied nicht ins Gewicht fällt. Dieser Boden muß alle nötigen Elemente enthalten, auch wenn die Verbindungen nicht ganz das sind, was wir brauchen. Aber die Lebensformen sind ja alle sehr anpassungsfähig.« Er betrachtete wieder die Probe in seinem Greifhaken. »An den Rändern sind Veränderungen festzustellen. Vielleicht ist die Hitzestrahlung meines Anzugs daran schuld. Drai, Sie mögen recht haben… in diesem Boden könnte eine flüchtige Substanz vorkommen, die jetzt verdampft. Hm, wie ich die wohl einfangen könnte?« Gedankenverloren ließ er seine Probe fallen.
»Das können Sie nachher versuchen. Warum untersuchen Sie nicht die weißen Flecken?« rief Drai. »Und auch die Felsen. Vielleicht ist etwas Bekanntes darunter, schließlich entstehen alle Erden letzten Endes aus Stein.« Ken mußte ihm recht geben. Er stemmte sich mit einem Ruck von seiner Rückenstütze ab, löste die Kniesperre und ging los, fort vom Schiff.
Bislang hatte er von der Kälte nichts gemerkt, nicht mal an den Füßen. Der Boden war offenbar kein guter Wärmeleiter. Das war nicht weiter verwunderlich. Ken nahm sich vor, an nackten Felsstellen vorsichtig zu sein.