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Ich tue mir gar nicht leid. Ich bin kein Opfer, denn ich hätte das Restaurant hocherhobenen Hauptes mit unangetasteter Ehre und leerer Brieftasche verlassen können. Ich hätte dem Araber eine Moralpredigt halten oder versuchen können, ihn dazu zu bringen, in mir eine Prinzessin zu sehen, die lieber erobert als bezahlt werden wollte. Ich hatte viele Möglichkeiten, dennoch habe ich das Schicksal für mich entscheiden lassen, welchen Weg ich einschlug.

Ich stehe nicht allein da, obwohl es so aussieht, als sei es mein Schicksal, am Rand der Gesellschaft zu leben. Aber bei der Suche nach dem Glück ergeht es uns allen gleich – dem Angestellten/Musiker ebenso wie dem Zahnarzt/Schriftsteller, der Kassiererin/Schauspielerin, der Hausfrau/Model – keiner von uns ist glücklich.

War's das? War es so einfach?

Sie befand sich mutterseelenallein in einer fremden Stadt, in der sie niemanden kannte, doch was für sie gestern noch eine Qual gewesen war, gab ihr heute ein starkes Gefühl von Freiheit, und sie genoß es, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.

Sie beschloß, den Tag dafür zu nutzen, über sich selbst nachzudenken. Bislang hatte sie sich immer nur um alle anderen gekümmert: um ihre Mutter, die Schulkameraden, den Vater, die Angestellten der Modelagentur, den Französischlehrer, den Kellner, die Bibliothekarin. Sie hatte sogar versucht, die Gedanken der Passanten auf der Straße zu erraten. Aber niemand dachte über irgend etwas nach, noch viel weniger über sie, eine arme Ausländerin, die niemandem fehlen würde, wenn sie morgen verschwände.

Genug! Sie verließ früh das Haus, trank ihren Morgenkaffee im gewohnten Bistro, spazierte hinunter zum See, wo sie in eine Demonstration von Kurden hineinlief, die in der Schweiz im Exil lebten, wie eine Frau sagte, die ihren kleinen Hund ausführte. Maria, die es plötzlich satt hatte, weiter so zu tun, als wüßte sie alles, fragte nach: »Woher kommen die Kurden?«

Sie war überrascht, als die Frau ihr die Antwort schuldig blieb. So war es nun maclass="underline" Alle tun so, als wüßten sie alles, und wenn man genauer nachfragt, wissen sie gar nichts. Sie kam an einem Internetcafe vorbei. Vielleicht konnte sie sich hier erkundigen? Einer der Gäste, die sie ansprach, fand für sie heraus, daß die Kurden aus Kurdistan kamen, einer Region in der südlichen Türkei und dem nördlichen Irak. Mit dieser Information ging sie wieder zurück an den See, wo die Kurden immer noch demonstrierten. Sie versuchte, die Frau mit dem Hündchen in der Menschenmenge zu erspähen, um ihr zu sagen, was sie herausgefunden hatte – aber die war inzwischen gegangen, wahrscheinlich weil der Hund die laute Menschenmenge mit ihren Schärpen, Kopftüchern und der fremdartigen Musik nicht ertrage n konnte.

›Diese Frau, das bin ich. Oder besser gesagt, das war ich. Immer habe ich so getan, als wüßte ich alles, habe mich hinter meinem Schweigen versteckt, bis dieser Araber mich dermaßen ärgerte, daß ich den Mut aufbrachte, zu sagen, daß ich Miro nicht kenne und gerade mal eine Coca-Cola von einer Pepsi unterscheiden kann. Und – war er schockiert? Hat er seine Meinung über mich geändert? Keineswegs! Ihm hat meine Spontaneität gefallen. Immer wenn ich klüger erscheinen wollte, als ich war, habe ich verloren. Genug damit!‹

Hatte die Modelagentur gewußt, was der Araber in Wirklichkeit wollte? War Maria nur ein naives Gänschen gewesen? Oder ging auch die Agentur davon aus, er würde ihr eine Arbeit in seiner Heimat besorgen?

Trotzdem fühlte sich Maria an die sem grauen Morgen in Genf weniger allein. Die Temperatur war auf null Grad gefallen, die Kurden demonstrierten weiter, die Straßenbahnen fuhren wie üblich pünktlich nach Fahrplan, die Juweliere legten ihre Schmuckkreationen in die Schaufenster, die Banken öffneten, die Clochards lagen auf den Parkbänken am See, und die Schweizer gingen zur Arbeit. Maria fühlte sich weniger allein, weil sie – für alle anderen unsichtbar – neben sich eine Frau spürte.

Sie glich der Jungfrau Maria, ihrer Namenspatronin. Maria lächelte, und die Frau lächelte zurück. Eine Stimme riet ihr aufzupassen, denn die Dinge seien komplizierter, als sie denke. Maria entgegnete, sie sei ein erwachsener Mensch und könne selbst beurteilen, wie einfach oder kompliziert die Dinge seien. Im übrigen könne sie nicht glauben, daß sich das Schicksal gegen sie verschworen habe und sie daran hindern wolle, ihren Traum zu verwirklichen. Im Gegenteil, denn ein Mann sei bereit gewesen, für einen Abend mit ihr tausend Schweizer Franken zu zahlen. Nur müßte sie in den nächsten Tagen entscheiden, ob sie mit den tausend Franken ein Flugticket kaufen und nach Hause zurückkehren wolle, oder lieber noch hierbleiben, um mehr Geld zu verdienen und sich schöne Kleider und Reisen leisten und ihren Eltern ein Haus kaufen zu können.

Die unsichtbare Frau neben ihr ließ Marias Einwände nicht gelten, doch Maria konterte, gerade weil das Leben so komplex sei, müsse sie jetzt in Ruhe darüber nachdenken – sosehr sie sich auch über die Begleitung freue.

Nüchtern überlegte sie, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete. Ihre Schulfreundinnen, die den Ort nie verlassen hatten, würden meinen, daß ihr bei ihrer Arbeit gekündigt worden sei, weil sie nie das Zeug zum internationalen Star gehabt hatte. Ihre Mutter wäre enttäuscht, weil sie die versprochenen Monatszuwendungen nicht bekommen würde. Ihr Vater würde für den Rest seines Lebens mit einem »Ich hab's ja gleich gesagt«-Gesicht herumlaufen. Und sie selbst würde wieder im Stoffladen arbeiten, den Besitzer heiraten – und das alles, obwohl sie weit herumgekommen war, Französisch gelernt und sogar einmal Schnee erlebt hatte.

Andererseits gab es Drinks für tausend Schweizer Franken. Natürlich würde das nicht ewig so bleiben, denn auch sie würde nicht ewig schön bleiben, aber sie konnte hart arbeiten und in kürzester Zeit genug Geld verdienen, um alles aufzuholen und in die Welt zurückzukehren, diesmal aber, um selbst die Regeln festzusetzen. Ihr unmittelbares Problem war einzig, daß sie nicht wußte, wo und wie sie anfangen sollte.

Da fiel ihr die Rue de Berne ein, von der im ›Gilbert Club‹ öfter die Rede gewesen war.

Sie ging zu einer der großen Tafeln, mit denen das touristenfreund liche Genf dafür sorgt, daß die Fremden sich auch ja nicht verlaufen können, und fragte einen Mann, der davor stand, nach dem Weg.

Dieser blickte sie erstaunt an und meinte dann, es sei wohl ein Mißverständnis und sie wolle nach Bern, in die Schweizer Hauptstadt. Als Maria verneinte, musterte er sie von Kopf bis Fuß und entfernte sich wortlos, wahrscheinlich weil er eine versteckte Kamera vermutete und sich nicht blamieren wollte. Doch Maria fand die Rue de Berne auch ohne seine Hilfe – so groß war die Stadt nun auch wieder nicht.

Ihre unsichtbare Begleiterin, die geschwiegen hatte, solange sie sich auf die Karte konzentrierte, versuchte sie davon abzubringen. Es sei keine Frage der Moral, sondern sie wolle verhindern, daß Maria einen Weg ohne Umkehr einschlage.

Maria sagte, wenn sie imstande sei, genug Geld für ein Rückflugticket nach Brasilien zu verdienen, würde sie mit allem fertig werden. Im übrigen habe kein einziger Mensch, der ihr auf ihrem Spaziergang begegnet sei, das Leben, das er führe, frei gewählt. So sah die Wirklichkeit aus.

»Wir leben in einem Jammertal«, sagte sie zu ihrer unsichtbaren Begleiterin. »Wir können noch soviel träumen das wirkliche Leben ist hart, unerbittlich, traurig. Was wollen Sie mir denn sagen: daß die anderen mich deswegen verdammen werden? Niemand wird es erfahren – dies ist nur eine Phase in meinem Leben.«

Mit einem sanften, aber wehmütigen Lächeln entschwand die unsichtbare Freundin.

Maria ging wieder zum Vergnügungspark. Sie kaufte sich eine Karte für die Achterbahn, kreischte und schrie mit den anderen vor Vergnügen, denn sie wußte nun, daß es nicht gefährlich war, sondern nur ein Spiel. Sie aß in einem teuren japanischen Restaurant, einfach aus dem Bedürfnis heraus, sich etwas zu gönnen. Sie war fröhlich, brauchte nicht mehr auf einen Anruf zu warten oder jeden Rappen zweimal umzudrehen, bevor sie ihn ausgab.

Gegen Abend rief sie von unterwegs die Modelagentur an, meldete, daß das Treffen sehr angenehm verlaufen sei, und bedankte sich. Wenn die Agentur Models vermittelte, würde sie die Fotos des Shootings sehen wollen. Wenn sie dagegen Frauen vermittelte, würde sie ihr neue Dates antragen. Man würde ja sehen.

Sie überquerte die Brücke und kehrte in ihr kleines Zimmer zurück. Einen Fernseher würde sie sich nicht kaufen, obwohl sie sich ihn jetzt leisten konnte. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, mußte nachdenken.

Aus Marias Tagebuch am selben Abend (mit der Randbemerkung ›ganz überzeugt bin ich nicht‹).

Ich habe herausgefunden, warum ein Mann für eine Frau bezahlt: Er will glücklich sein.

Er wird nicht tausend Franken zahlen, nur um einen Orgasmus zu haben. Er will glücklich sein. Ich will auch glücklich sein, alle wollen wir glücklich sein, aber keiner ist es. Was habe ich zu verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang… Es fällt schwer, es auch nur zu denken, geschweige denn zu schreiben… Also, noch maclass="underline" Was kann ich verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang zu einer Prostituierten zu werden?

Meine Ehre würde ich verlieren. Meine Würde. Meine Selbstachtung. Wenn ich es mir recht überlege, dann habe ich nie auch nur eines dieser drei Dinge besessen. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, mir ist es nicht gelungen, den Richtigen in mich verliebt zu machen, immer habe ich die falschen Entscheidungen getroffen – jetzt lasse ich einmal das Leben für mich entscheiden.

Die Agentur rief am nächsten Tag an, erkundigte sich nach den Fotos und wann die Modenschau stattfinden würde, da sie für jedes Shooting eine Vermittlungsgebühr einbehalte. Maria, die sie an den Araber weiterverwies, schloß daraus, daß die Agentur so ahnungslos gewesen war wie sie selbst.

Sie ging in die Stadtbücherei und wollte sich mit Büchern über Sex eindecken. Es galt, sich in einem ihr völlig unbekannten Bereich zu bewähren – höchstens ein Jahr, hatte sie sich vorgenommen –, und dazu gehörte, daß sie lernte, wie sie sich verhalten mußte, wie sie Lust geben und als Gegenleistung Geld dafür bekommen konnte.

Zu ihrer Enttäuschung sagte die Bibliothekarin, sie habe keine Bücher über Sex, nur ein paar Aufklärungsbücher. Maria überflog das Inhaltsverzeichnis und gab die Bände gleich wieder zurück: da ging's nicht um Glücklichsein, sondern nur um Erektion, Penetration, Impotenz, Verhütungsmethoden, langweilige Dinge. Sie erwog kurz, einen Band über die ›Hintergründe der Frigidität bei Frauen‹ mitzunehmen: sie selbst konnte nur durch Selbstbefriedigung zum Orgasmus kommen, obwohl sie es schön fand, von einem Mann genommen zu werden und zu spüren, wie er in sie eindrang.