Pia gestattete sich nicht, in Mutlosigkeit zu verfallen, sondern trat einen weiteren Schritt zurück und ließ ihren Blick an der nahtlosen Wand hinaufwandern. Das nächste Fenster befand sich in mindestens sechs oder sieben Metern Höhe, vollkommen unerreichbar, und war eigentlich kein Fenster, sondern eine bessere Schießscharte, durch die sie vermutlich nicht einmal hindurchgepasst hätte.
»Ich würde passen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Pia fuhr wie elektrisiert zusammen und herum und griff gleichzeitig unter dem Umhang nach ihrer Waffe.
Nicht einmal fünf Schritte hinter ihr war eine Gestalt aufgetaucht, schwarz wie ein Scherenschnitt in der Nacht und so lautlos wie ein Geist. Selbst jetzt, wo sie wusste, dass er da war, fiel es ihr schwer, ihn wirklich mit Blicken zu fixieren.
»Lasar?«
Der Schatten bewegte sich und wurde raschelnd von einem Umriss zu einem Körper mit Tiefe und Substanz, jedoch noch immer ohne Gesicht. Aber sie kannte die Stimme. »Lasar?«, fragte sie noch einmal. »Was tust du denn hier?«
»Es tut mir leid, Erha… «, er verbesserte sich hastig, »Gay… Pia. Ich wollte Euch nicht nachspionieren, aber …«
»Warum tust du es dann?«, fragte Pia. Wie um alles in der Welt kam er hierher? Und wieso hatte sie ihn nicht bemerkt?
»Es tut mir leid«, sagte Lasar noch einmal. »Ich wollte das nicht. Aber Brack …«
»… hat darauf bestanden, ich verstehe.« Pia war nicht ganz sicher, ob sie Lasar glauben sollte.
»Es tut mir leid«, stammelte Lasar zum dritten Mal.
»Ja, das glaube ich dir«, seufzte Pia. Das war sogar ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht zu sagen vermochte, was Lasar so unendlich leidtat. Dass er ihr nachgeschlichen war oder dass sie ihn gesehen hatte. »Und wie lange verfolgt du uns schon?«
Lasar schwieg, aber das war Antwort genug.
»Ich passe da oben durch«, sagte er. Pia reagierte nur mit einem verständnislosen Blick, und der Junge deutete mit beiden Armen an der Wand hinauf. »Das Fenster. Ich glaube, ich passe durch.« Er lächelte ebenso unecht wie verlegen. »Ich … habe Euren Blick bemerkt. Ihr wollt dort hinein, nicht wahr? Ich könnte durch das Fenster klettern und versuchen, die Tür von innen zu öffnen.«
»Und du hast unter deinem Mantel auch ein Paar Fledermausflügel versteckt, mit denen du dort hinauffliegen kannst, nehme ich an.«
»Ich kann nach oben klettern«, behauptete Lasar.
An einer Wand, die so glatt war wie ein Spiegel?
»Ich kann das«, versicherte Lasar, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich bin ein guter Kletterer.«
Pia sagte gar nichts mehr. Sie trat nur einen halben Schritt zur Seite und machte eine auffordernde Geste. Der Junge zögerte keinen Sekundenbruchteil, sondern rannte schon fast an ihr vorbei, und zumindest im ersten Moment hatte sie den Eindruck, dass er genauso schnell an der Wand hinauflief.
Natürlich stimmte das nicht – aber Lasar hatte wohl eher untertrieben. Er war nicht nur ein guter Kletterer, sondern krabbelte so schnell und geschickt wie eine menschengroße Fliege an der Wand empor und erreichte die erste Schießscharte bereits wenige Augenblicke später. Gleich darauf war er verschwunden.
Pia war noch immer viel zu perplex (und auch ein bisschen wütend auf Brack), um wirklich zu verstehen, was hier gerade passierte. Brack ließ sie also beobachten? Was fiel diesem Mistkerl eigentlich ein, sich als schlauer zu erweisen, als sie ihn eingeschätzt hatte?
Etwas schepperte, dann erscholl ein sehr schweres, lang nachhallendes Klacken, und in der Wand aus Schatten vor ihr erschien ein senkrechter schwarzer Riss, der sich knirschend zu einer fingerbreiten Linie erweiterte. Pia griff instinktiv zu, zog und zerrte mit aller Kraft und blickte plötzlich in ein schmales, sehr verängstigt aussehendes Gesicht.
»Es tut mir leid, Erhabe… Pia«, stotterte Lasar. »Ich habe nicht sofort herausgefunden, wie die Tür funktioniert. Da war ein Riegel, aber …«
»Schon gut. Und hör endlich auf, dich dauernd zu entschuldigen.« Pia schob ihn einfach aus dem Weg und schlüpfte durch den Türspalt. Dahinter erwartete sie nichts als Dunkelheit. Und die Mutter aller Modergerüche.
»Wartet hier.« Lasar verschwand wie ein Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz, hantierte einen kurzen Moment alles andere als leise irgendwo vor ihr herum und kam dann zurück, eine armlange Fackel in der Hand. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich auf ein Knie sinken, legte die Fackel auf den Boden und kramte zwei Feuersteine aus der Tasche, die er hektisch (und vollkommen ergebnislos) aneinanderzuschlagen begann.
Pia ließ ihn eine kleine Weile gewähren, dann zog sie Alicas Zippo hervor, entzündete es und hielt die Flamme an die Fackel, bevor sie sie aufhob. Diese fing sofort Feuer und brannte mit einer ruhigen hellblauen Flamme, die erstaunlich viel Licht verbreitete. Leider trotzdem nicht annähernd genug.
»Gut gemacht«, sagte sie.
»Oh, das war nichts Besonderes«, antwortete Lasar bescheiden. »Die Dinger liegen hier überall rum.«
Pia bedachte ihn nur mit einem wortlosen Blick, hob die Fackel höher – obwohl sie eine Menge Licht spendete, sah sie weiterhin so gut wie nichts, nur schwarze Schatten auf fast ebenso schwarzem Untergrund – und wandte sich dann noch einmal zum Tor um. So schwer es von außen gewesen war, es aufzuziehen, so leicht ließ es sich von innen wieder schließen. Das Klacken wiederholte sich, lauter und von einem drei-, vier-, fünffach nachhallenden Echo begleitet. Pia fühlte ein kurzes eisiges Frösteln, dessen sie sich nicht erwehren konnte, obwohl es vollkommen irrational war.
»Ich hoffe, du kriegst die Tür noch einmal auf«, murmelte sie.
»Das ist kein Problem«, sagte Lasar. »Ich kann …«
Er sprach nicht weiter, und Pia senkte die Fackel weit genug, um sein ziemlich schuldbewusst aussehendes Gesicht zu erkennen. »Du warst schon einmal hier«, sagte sie.
Lasar schwieg.
»Schon mehr als einmal.«
»Ja«, antwortete der Junge widerstrebend; und so schuldbewusst, dass Pia Mühe hatte, nicht die Hand auszustrecken und ihm tröstend damit den Kopf zu tätscheln. Dennoch fügte sie hinzu: »Und Brack hat dich auch nicht geschickt.«
Lasar sagte gar nichts dazu.
»Keine Angst. Er erfährt nichts davon. Jedenfalls nicht von mir.«
»Wir können nicht hierbleiben«, sagte Lasar. »Brack hat gesagt …«
»Ja, ich kann mir vorstellen, was er gesagt hat«, fiel ihm Pia ins Wort. Sie hob die Fackel ein wenig höher, und das Licht sprang mit kleinen, sonderbar mechanisch anmutenden Rucken eine Treppe hinauf, die ebenso schnell wieder in der Dunkelheit verschwand, wie sie daraus aufgetaucht war, ohne ihr wirklich mehr von ihrer Umgebung zu offenbaren. Aber sie spürte, dass sie sich in einem sehr großen Raum befanden.
»Er hat mich nicht wirklich geschickt«, gestand Lasar. »Aber er hat mir aufgetragen, auf Euch aufzupassen. Gleich am zweiten Tag.« Pia sah ihn auffordernd an, und er fügte nach einer winzigen Pause und in hörbar verlegenerem Ton hinzu: »Und darauf zu achten, dass Ihr nicht hierhergeht.«
Also hatte er zumindest geahnt, dass sie noch einmal herkommen würde. Aber warum erstaunte sie das eigentlich? Brack war alles andere als dumm, das hatte sie schon längst begriffen. Dann begriff sie noch etwas, nämlich ihren eigenen Denkfehler: Warum wollte Brack eigentlich nicht, dass sie hierherkam?
»Er hat dir also befohlen, auf mich aufzupassen und dafür zu sorgen, dass ich diesem Turm nicht zu nahe komme«, wiederholte sie. »Aber nicht heute Abend.«
Lasar nickte stumm. Sein Gesicht schien lediglich aus großen angsterfüllten Augen zu bestehen.
»Dann haben wir ein Problem«, sagte Pia. »Du könntest ihm sagen, dass du mich hier gesehen hast. Aber dann müsstest du ihm auch erklären, wie ich überhaupt hereingekommen bin.« Sie kam sich ein bisschen schäbig bei diesen Worten vor, aber es machte ihr zugleich auch nicht das Geringste aus, hinzuzufügen: »Ich habe die Tür nicht aufgemacht.«