»Du warst früher in einer Kinderbande«, vermutete sie.
Lasar blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig, was sie nicht weiter verwunderte.
»Wie viele Kinder leben hier?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lasar. »Wirklich nicht. Ich bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Vielleicht ein Dutzend. Manchmal mehr. Aber keine Angst. Sie werden uns nichts tun.«
Vermutlich nicht, dachte Pia. Wenn es hier so war wie in ihrer Heimat, dann waren die Bewohner dieses Verstecks längst geflohen oder beobachteten sie allenfalls aus sicherer Entfernung. Sie konnten es sich nicht leisten, aufzufallen. Oder auch nur bemerkt zu werden.
»Komm weiter«, sagte sie, noch immer auf dieselbe unbestimmte Art traurig. »Zeig mir den Rest.«
Sie passierten zwei weitere Räume, die sich allenfalls in der Größe von der ersten Kammer unterschieden, gingen eine kurze, aus nur drei Stufen bestehende Treppe hinauf und standen dann vor einem weiteren Torbogen, in dem es tatsächlich noch eine Tür gab, ein riesiges schwarzes Monstrum, das mit rostigen Metallbändern verstärkt worden war und aussah, als wöge es mindestens eine Tonne. Pia rechnete damit, dass Lasar die Gelegenheit ergreifen und kehrtmachen würde, aber er gab ihr nur seine Fackel, packte mit beiden Händen zu und wuchtete die Tür mit erheblicher Anstrengung auf. Dahinter wartete lastende Schwärze.
»Was ist das?«
Lasar nahm seine Fackel wieder entgegen und hob die Schultern. »Eine alte Waffenkammer, glaube ich. Weiter haben wir den Turm nie erforscht. Wir haben es nicht gewagt. Es heißt, er wäre verwünscht.«
Pia trat wortlos neben ihm durch die Tür und fand sich in einer sechseckigen Kammer wieder, in deren Wände zahlreiche unterschiedlich große und tiefe Nischen eingelassen waren. Zunächst sah sie nichts als Staub und Schmutz und uraltes Metall, aber ihr wurde auch rasch klar, warum Lasar diesen Raum als Waffenkammer bezeichnet hatte. Hier lagen überall Rüstungsteile, Waffen, eingedrückte Harnische, zerbrochene Schwerter und gesplitterte Bögen und Pfeile, abgebrochene Speere und verbogene Hellebarden und unzählige andere, ausnahmslos rostige und zerstörte Waffen und Kriegsutensilien. Sie überlegte einen Moment, den Raum nach etwas zu durchsuchen, was sich noch in halbwegs brauchbarem Zustand befand und sich mitzunehmen lohnte, dachte den Gedanken aber nicht einmal ganz zu Ende. Das hatten wahrscheinlich schon Generationen von Kindern besorgt. Hier gab es ganz bestimmt nichts, was das Mitnehmen noch wert gewesen wäre.
Trotzdem trat sie an eine der Nischen heran und streckte die Hand nach dem verbeulten Harnisch aus, der darin aufgestellt war. Es war ein sonderbares, durch und durch unheimliches Gefühl. Das ehemals silberfarbene Metall war stumpf und fleckig geworden, seine Oberfläche porös wie uraltes Gusseisen. Was auf den ersten Blick wie die Spuren der Jahrhunderte aussah, das offenbarte sich auf den zweiten als Folgen gewaltsamer Beschädigungen: schwerer Hiebe und mit erbarmungsloser Kraft geführter Stiche und Schläge, vor denen dieser Harnisch seinen Träger beschützt hatte.
Am Ende hatte dieser Schutz nicht gereicht.
Die Erkenntnis kam blitzartig und mit absoluter Gewissheit: Der ehemalige Besitzer dieser Rüstung war tot, gestorben vor Hunderten und Hunderten von Jahren, und er war einen grausamen Tod in der Schlacht gestorben; ein Ende, so grässlich, dass sie das Echo seiner entsetzlichen Schreie nach all den Jahren noch in dem zerschrammten Metall hören konnte.
Und was für den ehemaligen Besitzer dieses Harnischs galt, galt genauso für jedes einzelne andere Stück in diesem Raum, jeden Helm, jedes zerbrochene Schwert, jeden gesplitterten Pfeil und jede abgebrochene Dolchklinge. An all diesen Waffen klebte Blut, sie konnte es spüren. Etwas in ihr reagierte auf all den Schmerz und das endlose Leid, das diese Waffen gesehen und verursacht hatten. Sie fühlte sich schuldig. Nicht weil sie etwas mit diesem Grauen und sinnlosen Sterben zu tun hatte, sondern ganz einfach, weil sie noch lebte, weil ihr dieses Leid und die Qualen erspart worden waren. Es war ein vollkommen irrationales Gefühl, grundlos und dumm, doch es wurde mit jedem Atemzug stärker, als hätten die körperlos flüsternden Stimmen hier drinnen ihre Anwesenheit bemerkt und versuchten alle gleichzeitig, sich Gehör zu verschaffen. Pia wollte sich dagegen wehren, doch es gelang ihr nicht. Das Gefühl, Schuld an irgendetwas zu tragen, wurde ganz im Gegenteil mit jedem Moment stärker.
»Wenn Ihr dann … wenn du dann alles gesehen hast, sollten wir vielleicht wieder gehen«, sagte Lasar nervös. »Warum …was suchst du eigentlich hier?«
Diesmal blieb sie ihm die Antwort auf seine Frage schuldig, nicht weil sie selbst nicht wusste, warum sie hergekommen war, sondern weil sie gehofft hatte …
Ja, was eigentlich?
Pia hob die Schultern, drehte sich mit einem Ruck herum und bedeutete Lasar zu gehen. Er schloss die Tür der alten Waffenkammer sorgsam hinter ihnen, und Pia ließ ihn gewähren. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass es richtig war.
Das lautlose Flüstern klang plötzlich enttäuscht, und die Stimmen wurden leiser, verstummten jedoch nicht ganz.
Deutlich schneller, als sie gekommen waren, führte Lasar sie wieder zurück in die große Halle, und er beschleunigte seine Schritte sogar noch und steuerte das Tor an, das irgendwo unsichtbar vor ihnen in der Dunkelheit lag. Pia passte sich seinem Tempo ganz instinktiv an, doch dann blieb sie abrupt stehen, drehte sich halb herum und hob die Fackel höher. Sonderbar kantige Lichtreflexe sprangen die Stufen der gewaltigen Freitreppe hinauf und verschmolzen mit den Schatten an ihrem oberen Ende.
»Worauf wartest du?«, fragte Lasar nervös.
Statt zu antworten, hob sie die Fackel noch höher und machte einen Schritt auf die Treppe zu. Die Dunkelheit dort oben war so massiv wie eine Mauer, aber Pia war dennoch sicher, irgendwo dahinter eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
»Was ist dort oben?«
»Nichts. Gar nichts«, versicherte Lasar hastig und in einem Ton, der Pia davon überzeugte, dass er dort oben so ziemlich alles vermutete, nur nicht nichts.
»Ich war niemals dort oben«, beteuerte Lasar. Das wiederum glaubte sie ihm. »Niemand geht dort hinauf. Es heißt, in den Sälen spuken die Geister der Getöteten.«
»Die Geister der Getöteten?«
»Hier drinnen fand die letzte große Schlacht statt«, antwortete Lasar. »Es heißt, die Elfen hätten sich hier in diesem Turm verschanzt, um ihren letzten Widerstand zu leisten.«
»Heißt es das oder war es so?« Und welche Elfen überhaupt? Pia wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging weiter. Die Geister der Getöteten? Wohl eher ziemlich kleine und vor Schmutz starrende Geister, die aus großen Augen und mit klopfenden Herzen zu ihnen herabstarrten und sich fragten, wann zum Teufel – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: bei Kronn – die frechen Eindringlinge endlich verschwanden, damit sie wieder in ihre Verstecke zurückkehren konnten.
Aber dort oben war auch noch mehr …
Sie machte einen weiteren Schritt, und jetzt war eindeutig ein Klang von Entsetzen in Lasars Stimme: »Geh nicht dort hinauf! Es ist gefährlich!«
»Und woher willst du das wissen, wenn noch niemand dort oben gewesen ist?«, fragte Pia.
»Weil keiner, der jemals hinaufging, je zurückgekommen ist«, antwortete Lasar.
Das war ein Argument, das sie immerhin im Schritt stocken ließ. Wenn auch nur für einen Atemzug.
»Bleib einfach hier und warte auf mich, wenn du Angst hast«, sagte sie. »Wenn ich nach zwanzig Minuten noch nicht zurück bin, dann haben mich vermutlich die Geister gefressen, und du kannst nach Hause gehen.«
Das sollte witzig klingen, tat es aber nicht, nicht einmal in ihren eigenen Ohren. Ihre innere Stimme beharrte immer lauter darauf, dass sie auf Lasar hören und von hier verschwinden sollte, solange es noch ging, aber stattdessen setzte sie ihren Weg fort und blieb nur am Fuße der Treppe noch einmal kurz stehen, um ihre Fackel zu heben. Weitere Stufen tauchten flackernd aus der Dunkelheit auf und verschwanden wieder. Sie ging weiter.