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Pia zählte die Stufen, kam irgendwo zwischen dreißig und vierzig durcheinander und gab mit einem gedanklichen Achselzucken auf. Wozu auch? Diese Treppe war schon jetzt höher, als die ganze Halle sein konnte, wozu also einer Unmöglichkeit noch eine weitere hinzufügen?

Irgendwann erreichte sie das obere Ende der Treppe, einen breiten, halbmondförmigen Absatz ohne Geländer, blieb noch einmal stehen und blickte zu Lasar hinab. Sie erschrak, als sie sah, wie tief sich seine Fackel unter ihr befand; und wie winzig sie war. Diese Treppe war eindeutig höher, als sie sein konnte, basta.

Und jemand war hier, das konnte sie spüren. Jemand starrte sie an. Plötzlich war sie ganz und gar nicht mehr sicher, dass es nur ein paar Kinder sein sollten, die sie aus den Schatten heraus beobachteten.

Es gab nur eine einzige Tür, sodass ihr die Wahl nicht schwerfiel. Schnell und mit heftig klopfendem Herzen ging sie weiter, trat hindurch und fand sich auf einer weiteren, wenn auch sehr viel schmaleren Treppe wieder. Sie folgte ihr eine vollkommen unmögliche Anzahl von Stufen weit in die Höhe hinauf und gelangte schließlich in einen fensterlosen Gang aus schwarzem Stein. Mehrere Türen zweigten von ihm ab, doch Pia zögerte nicht einmal einen Sekundenbruchteil, die richtige zu wählen, durchquerte einen vollkommen leeren Raum ohne Fenster und überwand noch eine Treppe. Und so ging es weiter. Sie durchschritt Räume voller Staub und Spinnweben, durchquerte Säle, die so leer waren, dass nicht einmal die Dunkelheit darin Platz zu finden schien, ein Labyrinth aus Fluchten, Katakomben voller uralter Möbel, die schon durch den bloßen Luftzug ihres Vorübergehens zu Staub zerfielen, und noch mehr Kammern, Treppen und Säle. Während der ganzen Zeit musste Pia sich nicht einmal orientieren, sondern fand ihren Weg mit so traumwandlerischer Sicherheit, als wäre sie in diesem lichtlosen, kalten Labyrinth aufgewachsen.

Und schließlich betrat sie den Thronsaal.

Sie wusste es, noch bevor sie die gewaltige, offen stehende Tür durchschritt und sich das Licht der Fackel auf uraltem Silber und erblindetem Gold brach, lautlose Explosionen aus Licht in tausend Jahre altem Kristall und buntem Farbenregen aus noch älterem Edelstein aufflammen ließ. Sie hatte das Herz des Turmes erreicht. Vor ihr lag der Thronsaal des Hochkönigs.

Pia blieb eine kleine Ewigkeit unter der Tür stehen und versuchte den unglaublichen Anblick in sich aufzunehmen. Der Raum war gigantisch, mindestens so groß wie die riesige Halle unten, wenn nicht größer, und genau wie sie hatte er nur sehr wenige schießschartenähnliche Fenster, durch die selbst tagsüber kaum Licht hereinfallen konnte.

Trotzdem war es nicht dunkel. Das Licht der Fackel brach sich auf Hunderten glänzenden Flächen aus Metall, Glas oder Kristall, sodass sie zwar keine Einzelheiten erkennen konnte, aber immerhin einen allgemeinen Eindruck des Saales bekam – der schlichtweg atemberaubend war. Verrottete Möbel, mit staubverkrusteten Spinnweben verhangen wie mit alten grauen Segeln, bildeten ein Labyrinth aus Schatten und Hindernissen, und etwas, das gar nicht da war, schien sich zu bewegen.

Warum war sie hergekommen? Pia weigerte sich, an einen Zufall zu glauben – dafür war dieses Gebäude einfach zu groß –, und sie hatte diesen Gedanken auch kaum gedacht, da schienen sich ihre Füße wie von selbst in Bewegung zu setzen. Sie versuchte nicht, sich dem Willen ihrer magischen Stiefel zu widersetzen, sondern ließ sich einfach treiben, hielt aber nach wenigen Schritten schon wieder an, um sich umzusehen.

Auch hier gab es überall Waffen, als wäre dieser Raum einzig zu dem Zweck erschaffen worden, die Bestimmung des ganzen Gebäudes als Festung und Fanal der Wehrhaftigkeit zu unterstreichen: An den Wänden hingen gekreuzte Speere und Schwerter, runde, viereckige oder auch ganz und gar asymmetrische Schilde und überall standen Rüstungen, zum Teil aus schwerem, mit metallenen Nieten und Platten verstärktem Leder, zum Teil aus blind gewordenem Metall, das irgendwann einmal silberfarben gewesen sein mochte. Alles Metall hier war zerschrammt, die Schwertklingen rostig und von uraltem eingetrocknetem Blut besudelt, aber längst nicht so hoffnungslos zerstört wie das, was sie in der Waffenkammer gesehen hatte. Ganz instinktiv lauschte Pia auf die flüsternden Stimmen der Toten in ihrem Inneren, doch sie hörte nichts.

Zentraler Punkt des gesamten Raumes, dessen ganze Architektur darauf ausgelegt war, Blicke und Aufmerksamkeit aller Eintretenden darauf zu lenken, war ein gewaltiger schwarzer Thron, der aussah, als wäre er direkt aus dem natürlich gewachsenen Fels des Bodens herausgemeißelt worden; oder gewachsen. Selbst ein Riese musste darauf klein und verloren aussehen. Die Armlehnen und die wuchtige Rückenlehne waren mit düsteren Symbolen übersät, Schlangen, Drachen und anderen, noch sehr viel unangenehmer anzuschauenden Dingen, und ein gewaltiger Drachenschädel mit aufgerissenem Maul schien jeden zu bedrohen, der sich dem Thron näherte.

Pia hatte nichts dergleichen vor. Schon allein dieses monströse Möbel anzusehen, bereitete ihr körperliches Unbehagen. Außerdem hatte sie etwas entdeckt, das ihre Neugier in weitaus stärkerem Maße weckte. Die Wand hinter dem Thron war voll von Bildern und kunstvoll gemeißelten Reliefarbeiten wie alles hier drinnen, aber sie befanden sich in weitaus besserem Zustand als alles, was sie bisher gesehen hatte.

Etwas scharrte, ein Geräusch wie Schritte irgendwo hinter ihr, vielleicht auch ein Schleifen. Pia fuhr erschrocken herum, hob die Fackel höher und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Aber die einzige Bewegung, die sie sah, waren die tanzenden Lichtreflexe ihrer Fackel und das hundertfache optische Echo, das sie in all den schimmernden Flächen ringsum erzeugten.

Und mehr war da auch nicht gewesen.

Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Als Nächstes würde sie noch Kettenrasseln hören. Ihre Nerven schleiften offensichtlich über den Fußboden … aber das war in einer Umgebung wie dieser schließlich auch kein Wunder.

Sie lauschte noch einmal – nichts –, drehte sich wieder herum und trat dann dichter an die Reliefarbeiten heran, wobei sie einen respektvollen Bogen um den schwarzen Thron und das aufgerissene Drachenmaul schlug. Auch wenn sie wusste, dass es ganz und gar unmöglich war, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Blick des steinernen Drachen ihr misstrauisch folgte.

Ärgerlich verscheuchte sie den Gedanken und versuchte sich ganz auf die Bilder zu konzentrieren. Auf den ersten Blick wirkten sie einfach nur verwirrend, eine schier unglaubliche Anzahl winziger gemeißelter Kunstwerke, von denen eines perfekter ausgeführt war als das andere und an denen die Zeit unglaublicherweise fast spurlos vorübergegangen zu sein schien. Aber nach einer Weile glaubte sie doch so etwas wie ein System in diesem vermeintlichen Chaos zu erkennen, und dann, einmal darauf aufmerksam geworden, fiel es ihr sogar erstaunlich leicht, all die künstlerischen Details und Übertreibungen auszublenden, und ihr wurde klar, was sie da wirklich sah.

Das gigantische Relief erzählte eine Geschichte.

Die Geschichte der Elfenkriege.

Pia machte noch einmal kehrt und ging zum Anfang des Reliefs zurück. Das flackernde Licht der Fackel offenbarte ihr nicht nur jedes winzige Detail, sondern erfüllte die Bilder auch mit Bewegung und der unheimlichen Illusion von Leben. Sie sah die Geschichte der Elfenkriege, verkürzt, heroisiert und alles andere als objektiv dargestellt, und trotzdem, wie sie einfach wusste, zumindest in der Abfolge richtig. Es begann mit der ersten Landung der fremden Krieger, die auf ihren unheimlichen lebenden Schiffen über das Meer aus dem Osten gekommen waren, hochgewachsene Gestalten in schimmernden Rüstungen und mit hohen spitzen Helmen und tödlichen Schwertern, die Leid und Chaos über das Land und seine Bewohner brachten. Sie sah brennende Städte und sterbende Menschen, Leid in tausendfacher Gestalt, gewaltige Schlachten, heroische Krieger und grässliche Niederlagen, dann schließlich die Wende, die mit der Ankunft weiterer lebender Schiffe voller spitz behelmter Gestalten aus dem Osten einherging. Der Krieg entflammte neu, mehr Schlachten wurden geschlagen, mehr Städte brannten, und Ströme von Blut färbten die Flüsse rot. Und schließlich das Erscheinen Prinzessin Gaylens und der Verrat des Hochkönigs, genau wie Brack es ihnen berichtet hatte.