»Moment.« Pia blieb mitten im Schritt stehen. Sie bemühte sich, das Durcheinander hinter ihrer Stirn zu ordnen und möglichst ruhig weiterzusprechen. »Du willst damit sagen, die Stadtwache tötet Kinder? Warum?«
»Weil sie Kinder sind«, antwortete Lasar so selbstverständlich, als wäre das Antwort genug.
»Das allein reicht wohl kaum als Grund.«
»Ihnen schon«, sagte Lasar. »Sie töten Jungen und Mädchen zwischen fünf und fünfzehn. Natürlich nicht alle. Nur manche. Die, die sich nicht verstecken oder zu langsam sind, um ihnen davonzulaufen.«
»Einfach so?«, fragte Pia fassungslos. »Warum?«
»Das war schon immer so«, antwortete Lasar. »Es ist das Gesetz. Sie töten nur die, die nach Dunkelwerden auf der Straße sind. Kaum einer wagt sich deshalb nach Sonnenuntergang nach draußen. Aber manche eben doch, weil sie sich für schlauer oder gerissener als die Wache halten – oder einfach dumm sind.« Er machte ein fragendes Gesicht. »Ist das da, wo du herkommst, nicht so?«
Pia wollte ebenso instinktiv wie empört Natürlich nicht! antworten, aber dann deutete sie nur ein ausweichendes Achselzucken an. Natürlich machte die Polizei von Rio de Janeiro nicht nach Einbruch der Dunkelheit Jagd auf Kinder, um sie zu erschießen – das erledigten andere, anonyme Killerkommandos, die zuschlugen und sofort wieder verschwanden, nachdem sie ein paar Slumkinder erledigt hatten, und jeder wusste, in wessen Auftrag sie unterwegs waren.
»Siehst du? Das ist überall so.« Lasar machte eine auffordernde Geste, und sie setzten ihren Weg fort. Sein Blick strich rasch und neugierig über den länglichen Umriss, den sie unter ihrem Mantel verbarg, und entfernte sich dann hastig wieder, und Pia konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, schützend die Hand darüberzulegen. Obwohl das Schwert schwer und so kalt war, dass seine Berührung selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch fast wehtat, hatte sie es beinahe vergessen, denn es trug sich so selbstverständlich, als wäre es ein natürlicher Teil ihres Körpers; oder als besäße sie es schon so lange, dass es fast zu einem solchen geworden war.
Während der restlichen Zeit, die sie brauchten, um den Weißen Eber wieder zu erreichen, wechselten sie kein Wort mehr miteinander. Pia war immer noch vollkommen schockiert. Sie spürte, dass Lasar ihr die Wahrheit gesagt hatte, trotzdem fiel es ihr schwer, ihm zu glauben. Die Stadtwache sollte Jagd auf Kinder machen, nur weil sie nach Dunkelwerden das Haus verließen? Warum?
Sie erreichten die Straße, in der der Weiße Eber lag, und Pia blieb stehen, bevor sie die schützenden Schatten verließen. Wie sie es erwartet hatte, standen zwei von Istvans Männern auf der der Tür gegenüberliegenden Seite und froren um die Wette, und hinter den dünnen Papierfenstern des Gasthauses bewegten sich unruhige Schatten. So still, wie es hier draußen war, konnte sie gedämpfte Stimmen, Gelächter und Gemurmel hören.
»Gaylen?«, fragte Lasar.
Pia überlegte einen Moment ernsthaft, ihr Glück auf die Probe zu stellen und den Mantel aus schützenden Schatten zu benutzen, um unerkannt an den Männern vorbeizugelangen, verwarf diesen Gedanken aber schon, bevor sie ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Statt irgendetwas zu sagen, bedeutete sie Lasar mit einer Geste, vorauszugehen, und der Junge verstand. In seinen Augen blitzte es zufrieden auf, eine Aufgabe von ihr bekommen zu haben, dann wandte er sich um und huschte in die entgegengesetzte Richtung davon. Pia folgte ihm.
Lasar führte sie durch ein verwirrendes Labyrinth dunkel daliegender Gässchen und Hinterhöfe, und schon nach wenigen Augenblicken kletterten sie nebeneinander über die Mauer, die den Hinterhof des Weißen Ebers begrenzte. Etwas klapperte, als Pia in den Hof hinabsprang, und sie bedeutete Lasar zu warten.
Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass Lasar ohnehin gesehen haben musste, was sie im Thronsaal des Turmes gefunden hatte, und wenn nicht das, sollte ihr sein neugieriger Blick gerade klargemacht haben, dass ihr Geheimnis keines mehr war – dennoch zögerte sie spürbar, unter den Mantel zu greifen und das sonderbare Schwert hervorzuziehen.
Andererseits hatte sie keine Wahl. Wenn sie schon gezwungen war, irgendjemandem hier zu vertrauen, dann gehörte dieser Junge vermutlich zu den sehr wenigen, bei denen sie es riskieren konnte.
Schweren Herzens zog sie das Schwert unter dem Umhang hervor und reichte es ihm. Lasars Augen wurden groß. Pia war sicher, nicht nur Staunen und Ehfurcht darin aufblitzen zu sehen, sondern für einen winzigen Moment auch pure Angst. Seine Hände zitterten sichtbar, als er – zögernd, fast widerwillig – nach der Klinge griff.
Pia schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, streifte rasch den Umhang von den Schultern und wickelte das Schwert hinein. »Bring das in mein Zimmer«, bat sie. »Versteck es unter dem Bett, aber achte darauf, dass niemand es sieht.«
»Aber das ist …«, begann Lasar, doch Pia unterbrach ihn mit einem raschen Kopfschütteln.
»Ich weiß, was das ist. Tu, was ich dir sage. Bitte«, fügte sie nach einem winzigen Moment und mit einer Spur von schlechtem Gewissen hinzu.
»Wie Ihr befehlt, Erhabene«, antwortete Lasar, und diesmal verzichtete Pia darauf, ihn zu korrigieren. Manchmal war es doch ganz praktisch, Befehle erteilen zu können, die niemand infrage stellte.
»Warte einen Moment«, sagte sie nur. »Dann folge mir.«
Sie betrat den Weißen Eber durch den Hintereingang und stellte ohne Überraschung fest, dass der Schankraum schon wieder bis auf den letzten Platz besetzt war. Überall wurde getrunken und gelacht, und mehr als ein gieriger Blick traf ihr Gesicht und tastete in dem vergeblichen Versuch über ihre Gestalt, den Stoff ihres Kleides durchsichtig werden zu lassen. Das kannte sie mittlerweile.
»Gaylen! Endlich! Wo bist du gewesen?« Brack jonglierte mit gleich vier Bierkrügen in den Händen im Slalom zwischen den Tischen hindurch und sah ziemlich erschöpft aus, zugleich aber auch ein bisschen verärgert. »Ich habe dich überall gesucht!«
Pia machte eine Kopfbewegung auf die geschlossene Tür hinter sich. »Auf dem … « Sie zauberte ein verlegenes Lächeln auf ihr Gesicht. »Du weißt schon.«
Bracks Augen wurden schmal. »Ich habe eine Stunde lang nach dir gesucht. Und nach Alica auch.«
»Mir war nicht besonders gut«, erwiderte Pia. »Ich muss wohl irgendetwas Schlechtes gegessen haben.«
Bracks Augen wurden noch schmaler, während er näher kam und dann seine Last klirrend auf der improvisierten Theke ablud. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, dass er auch dort gesucht hatte. »Aber jetzt bin ich ja da.«
»Ja«, sagte Brack, setzte sichtbar dazu an, eine weitere und vermutlich deutlich weniger leicht zu beantwortende Frage zu stellen, und schüttelte schließlich nur den Kopf. »Schnell, Mädchen! Hol deine Schürze und dann rasch hinter die Theke! Jeder Moment, den du hier herumstehst, kostet mich bares Geld!«
Die Tür ging auf und Lasar kam herein, ihren zusammengerollten Mantel mit dem darin verborgenen Schwert unter dem linken Arm. Es erschreckte ihn, Brack unmittelbar vor sich zu sehen, und dieser fuhr ihn auch sofort an: »Und du machst dich auch nützlich, du elender Faulpelz! Wo bei Kronn hast du dich wieder rumgetrieben? Was glaubst du eigentlich, wofür ich dich bezahle?«
Bevor Lasar irgendetwas Dummes antworten konnte, trat Pia mit einem wie zufällig wirkenden Schritt zwischen ihn und Brack und machte eine auffordernde Geste. »Tu, was Brack gesagt hat«, sagte sie. »Bring meinen Mantel nach oben und hol mir meine Schürze. Bitte.«
Lasar nuschelte irgendetwas, das sich wie »Seit wann bezahlt er mich überhaupt?« anhörte, beeilte sich aber trotzdem, mit schnellen Schritten die Treppe anzusteuern und an ihrem oberen Ende zu verschwinden. Nach einem weiteren Augenblick löste sich auch Pia von ihrem Platz und trat gehorsam hinter die Theke. Der Geräuschpegel in Schankraum sank um ein gehöriges Stück. Pia zögerte, aber sie fühlte Bracks auffordernden Blick und wusste, was sie ihm schuldig war – auch wenn sie nach dem Gespräch mit Istvan und vor allem Malu nicht mehr sicher sagen konnte, ob es sich wirklich um eine kluge Idee handelte. Mit einer Bewegung, die gerade eine Winzigkeit zu langsam war, um nicht aufreizend zu wirken, hob sie beide Arme, streifte das Kopftuch ab und schüttelte ihr Haar mit einer gekonnten Bewegung nach hinten, sodass es sich wie ein weißgoldener Wasserfall über ihre Schultern und bis weit über ihren Rücken ergoss. Für die Dauer eines einzelnen Atemzuges wurde es mucksmäuschenstill und dann irgendwie sogar noch stiller, als sie ihr Haar ordnete und mit geschickten Bewegungen unter dem Kopftuch verbarg. Danach setzte der allgemeine Lärm wieder ein, und Pia senkte hastig den Blick, viel mehr zornig als beschämt. Sie kam sich immer noch ein bisschen schäbig vor, aber wenn das alles an Striptease war, was Brack von ihr erwartete, um seine Gäste zufriedenzustellen, dann sollte er es haben.