Sie griff nach einem leeren Bierkrug, den Brack ihr reichte, füllte ihn auf und verfuhr auf dieselbe Weise mit einem zweiten, dritten und vierten, bevor sie sie auf die Theke stellte, damit Brack sie abholen konnte. Als er das zweite Mal zurückkam, raunte er ihr zu: »Wo bist du wirklich gewesen?«
»Auf der Toilette«, antwortete Pia. »Und selbst wenn nicht … was geht dich das an?«
Ihr harscher Ton überraschte sie beinahe selbst, aber Brack schien ihn ihr nicht übel zu nehmen. »Nichts«, gestand er. »Aber andere könnten sich dieselbe Frage stellen. Siehst du den Kerl neben der Tür? Den mit dem Lederhelm? Schau nicht zu auffällig hin.«
Pia hob wie zufällig den Blick und sah in die angegebene Richtung. An einem Tisch neben dem Eingang saß ein einzelner, zumindest für hiesige Verhältnisse sehr großer Mann, der schlichte, jedoch sehr robust wirkende Kleidung und etwas trug, was sie zu Hause vermutlich als altmodische Flieger- oder Motorradhaube bezeichnet hätte, das hier aber wohl als leichter Helm durchging. Irgendetwas an seinem Gesicht kam ihr bekannt vor, doch sie war nicht sicher. Anscheinend war ihre Bewegung gar nicht so unauffällig gewesen, wie sie geglaubt hatte, denn er senkte rasch den Blick und starrte in seinen Bierkrug; was ganz bestimmt kein Zufall war.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, antwortete Brack. »Ich habe den Kerl hier noch nie gesehen. Aber er gefällt mir nicht. Sitzt nur da, starrt in sein Bier und sagt kein Wort. Als ob er auf was warten würde.«
»Du glaubst, Istvan hätte ihn geschickt? Oder Malu?«
»Keine Ahnung«, antwortete Brack. »Aber sei ein bisschen vorsichtig … und lass dein Kopftuch für heute Abend, wo es ist.«
»Das wird deinen Gästen nicht gefallen«, sagte Pia.
»Und Malus Spitzel noch sehr viel weniger«, fügte Brack hinzu. Er nahm gleich vier gefüllte Krüge in beide Hände und warf ihr einen fast beschwörenden Blick zu. »Ich rede morgen früh noch einmal mit Istvan. Ich denke, ich kann ihm einen Vorschlag machen, den er nicht ablehnen wird. Aber bis dahin solltest du besser ein wenig vorsichtig sein. Wäre doch zu schade, wenn wir uns selbst den Spaß verderben, Malu den Spaß zu verderben, oder?«
Pia warf ihm einen leicht irritierten Blick zur, aber Brack grinste nur breit und trollte sich mit seinen Krügen, und Pia konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit.
Sie hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden. Für eine Weile gelang es ihr, es zu ignorieren, doch schließlich resignierte sie und sah auf.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Sie wurde angestarrt. Und dieses Mal senkte der Mann nicht den Blick, sondern sah sie direkt und ruhig an, und sie erkannte das Gesicht unter dem zerschrammten Lederhelm und dem verfilzten schwarzen Haar genau.
Pia erstarrte. Das war nicht möglich. Ihr Verstand, ihr logisches Denken, alles schrie ihr zu, dass sie sich täuschen musste, dass es ganz und gar unmöglich war …
Aber es war trotzdem die Wahrheit.
Er sah älter aus als das letzte Mal, mindestens zehn Jahre älter, und es konnten keine leichten zehn Jahre gewesen sein. Sein Gesicht war verhärmt. Auf seiner linken Wange prangte eine hässliche gezackte Narbe, als hätte jemand versucht, ihm mit einem nicht besonders scharfen Gegenstand das Gesicht zu zerschneiden, und rings um seine Augen war ein Netz dünner Fältchen entstanden, die nicht so wirkten, als kämen sie vom Lachen. Er starrte sie an. Das taten viele hier drinnen, wenn nicht alle, aber er tat es auf eine vollkommen andere Art. Sie war nicht einmal unbedingt unangenehm – auf jeden Fall nicht annähernd so anzüglich wie die der meisten –, aber … anders. Ein wenig erstaunt vielleicht, wobei sie das sichere Gefühl hatte, dass dieses Erstaunen nichts mit ihrem bloßen Anblick zu tun hatte. Oder doch, aber auf eine andere Art, als sie es erwartet hätte.
»Lös mich bitte für einen Moment ab«, sagte sie zu Lasar, der in diesem Moment zurückkam, drückte ihm einen leeren Krug in die Hand und ging mit raschen Schritten um die Theke herum und auf den Tisch neben dem Eingang zu. Zahlreiche erstaunte Augenpaare folgten ihr – unter anderem die Bracks, auch wenn er vielmehr verstimmt als erstaunt wirkte –, aber sie ignorierte sie, ging zu dem Tisch, an dem der Narbige saß, und ließ sich kommentarlos auf den Schemel ihm gegenüber sinken. Sie dachte an die Pistole, die oben unter ihrem Kopfkissen lag, und überlegte einen kurzen Moment lang ernsthaft, aufzustehen und sie zu holen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder.
»Hallo, Pia«, sagte Hernandez. »Schön, dich wiederzusehen.«
Es war seine Stimme. Sie hatte sich nicht verändert, war allenfalls etwas rauer geworden, aber es war ganz eindeutig seine Stimme. Viel mehr als das, was er sagte, zerstörte der Klang dieser Stimme auch noch den allerletzten Funken Hoffnung, vielleicht nichts als einer geradezu unglaublichen Ähnlichkeit aufgesessen zu sein. Es war Hernandez.
»Du hast dich gut gehalten.«
»Was man von Ihnen nicht behaupten kann«, antwortete Pia mit belegter Stimme. »Ich hätte Sie kaum wiedererkannt.«
»Es waren harte Zeiten«, sagte Hernandez.
Brack trat an ihren Tisch und polterte sofort los. »Gaylen, was soll das? Die Gäste haben Durst, und dieser Dummkopf Lasar schüttet mehr neben die Krüge als hinein, und …«
»Dann solltet Ihr Eurem Gehilfen vielleicht zur Hand gehen und mir einen frischen Krug Bier bringen«, unterbrach ihn Hernandez, »das übrigens ausgezeichnet ist.«
»Danke«, sagte Brack, »aber ich sehe es nicht gerne, wenn …«
»– deine Gäste durstig sind?« Hernandez’ Stimme veränderte sich fast unmerklich. Es war nur um eine Winzigkeit, kaum hörbar, aber dafür umso deutlicher zu fühlen. Sie klang plötzlich so kalt wie Eis und scharf wie eine Messerklinge. Brack japste nach Luft, plusterte sich auf und blinzelte dann erschrocken, als Hernandez ihn mit einem eisigen Blick maß.
»Noch ein Krug Bier, ganz wie Ihr wünscht«, murmelte er und trollte sich.
»Sie haben sich nicht verändert, Comandante«, sagte Pia anerkennend. Ihre Stimme klang noch immer flach.
»Will ich doch hoffen. Schließlich hatte ich Zeit genug zum Üben.«
Das war unübersehbar. Hernandez war älter geworden. Was, um Gottes willen, war hier passiert?
»Ich würde dich ja gerne auf einen Krug Bier einladen, aber das wäre ziemlich albern, wo du doch sozusagen an der Quelle sitzt, nicht wahr?«, fuhr Hernandez fort. »Ganz davon abgesehen, dass es ja fast einer Beleidigung gleichkäme, einer leibhaftigen Elfenprinzessin etwas so Ordinäres wie ein Bier anzubieten.«
»Elfenprinzessin?«, fragte Pia, aber Hernandez hob sofort die Hand und brachte sie zum Schweigen. Pia fiel auf, dass das letzte Glied seines kleinen Fingers fehlte. Die Narbe sah so alt aus wie die in seinem Gesicht.
»O bitte, Gaylen«, sagte er betont. »Ich bin nicht von so weit her gekommen, um mir die berühmte Attraktion des Weißen Ebers anzusehen und jetzt eine wenig eloquente Ausrede zu hören.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ist das das richtige Wort in diesem Zusammenhang? Eloquent? Ich bin es nicht mehr gewohnt, in solchen Begriffen zu denken. Man verlernt so schnell, die Sprache richtig zu benutzen, wenn so viele Worte ihren Sinn verlieren.« Lachend nippte er an seinem Bier. Obwohl er gerade bei Brack einen frischen Krug bestellt hatte, stand sein alter kaum angerührt vor ihm.