Hernandez brachte nicht nur das Kunststück fertig, dieses Monstrum von Satz auszusprechen, ohne über seine eigene Zunge zu stolpern oder auch nur ein einziges Mal Luft zu holen, Pia brauchte auch mindestens noch einmal genauso lange, um den Sinn seiner Worte zu begreifen.
»Wie bitte?«, murmelte sie dann.
»Ja, das dachte ich mir, dass dir das nicht gefällt«, sagte Hernandez. Er schien sich köstlich zu amüsieren.
»Ich verstehe es nicht einmal.«
»Wie auch? Aber es ist die Wahrheit. Die Soldaten sind bereits unterwegs. Man hört, die Orks machen ihnen das Leben ein bisschen schwer, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie noch länger als zwei Wochen brauchen, bis sie hier sind. Allerhöchstens drei, wenn ihr Glück habt … aber darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen.«
»Apulo?«
»Die Hauptstadt des Reiches«, erklärte Hernandez, doch Pia schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich«, sagte sie. »Aber Brack hat mir erzählt, dass ein Bote allein drei Monate braucht, um dorthin zu kommen.«
»Da hat er wohl gelogen.« Hernandez trank einen großen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Pia sah, dass ihm auch an der anderen Hand das letzte Glied des kleinen Fingers fehlte.
»Und warum sollte er das tun?«
Hernandez lachte. »Um genau das zu erreichen, was er erreicht hat, Prinzessin Gaylen. Ihr fühlt euch sicher und kommt auf keine dummen Ideen.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte Pia. »Warum sollte sich jemand in der Hauptstadt für Alica und mich interessieren?«
»Ja, warum wohl, Prinzessin Gaylen?«, erwiderte Hernandez spöttisch.
»Hören Sie mit dem Quatsch auf! Sie wissen genau, dass ich nicht diese Elfenprinzessin bin!«
»Ach?«, fragte Hernandez. »Weiß ich das?«
»Sie sind …«
»Und außerdem spielt es überhaupt keine Rolle«, fuhr er ungerührt fort. »Jemand in der Hauptstadt scheint es zu glauben … oder zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, und das immerhin ernsthaft genug, um ein ganzes Regiment der besten Krieger des Landes in Bewegung zu setzen, das euch abholen soll.«
»Das ist doch alles Unsinn«, widersprach Pia. Aber ihrer Stimme fehlte die notwendige Überzeugung. »Das hätte man uns doch gesagt.«
»Weil die Leute hier ja so nett sind«, vermutete Hernandez und schürzte gleich darauf verächtlich die Lippen. »Das Dumme ist nur, dass sie es nicht sind. Ich kann nichts über diesen Brack sagen. Vielleicht spielt er euch nur etwas vor, vielleicht ist er tatsächlich die große Ausnahme … aber das wird euch nichts nutzen, wenn sie euch erst einmal den Truppen übergeben haben und ihr auf dem Weg nach Apulo seid. Du bist nicht die Erste, die von sich behauptet, die Reinkarnation von Gaylen zu sein.«
»Das habe ich nie behauptet.«
»Man wird euch in die Hauptstadt bringen und dort verhören. Wenn du die echte Gaylen sein solltest, wäre das vermutlich nicht gut für dich. Die Leute hier sind ziemlich nachtragend, fürchte ich. Sie nehmen es den Elfen immer noch übel, dass sie damals das halbe Land in Schutt und Asche gelegt und die Überlebenden versklavt haben.«
Das hatte sie jetzt nicht unbedingt hören wollen. »Und wenn sich herausstellt, dass ich keine Elfenprinzessin bin …«
»– sondern nur eine kleine Taschendiebin aus den Favelas?« Hernandez hob die Schultern. »Das kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Was sie in Apulo gerade brauchen«, antwortete Hernandez. »Frauen, die in der Wäscherei arbeiten, auf dem Schlachthof oder in den Bergwerken. Wenn du Glück hast, sucht einer der hohen Herren im Schloss gerade eine neue Mätresse. Oder man hört nie wieder etwas von deiner kleinen Freundin und dir.«
Pia starrte ihn an. Hernandez’ Augen funkelten spöttisch, aber darunter war etwas, das sie an gefrorenen Stahl erinnerte. Er sagte das nicht nur, um sie zu quälen. Es war die Wahrheit.
Trotzdem fuhr sie fort: »Warum sollte ich Ihnen das glauben?«
»Das musst du nicht«, antwortete Hernandez gelassen. »Warte einfach drei oder vier Wochen, und dann wird sich schon zeigen, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht.«
Pia starrte ihn fast hasserfüllt an, was Hernandez aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. Sein Lächeln kühlte noch einmal um mehrere Grade ab, und schließlich hob sie mit einem Ruck den Kopf und sah zu Brack. Er stand hinter der Theke und füllte seine Krüge, aber er blickte immer wieder in ihre Richtung, und sein Gesicht war beinahe so finster wie Pias Gedanken.
Nein, sie weigerte sich einfach zu glauben, dass Hernandez die Wahrheit sagte. Sie hatte den schmerbäuchigen Wirt nicht unbedingt ins Herz geschlossen, doch sie wollte trotzdem nicht glauben, dass er Alica und sie derart hintergangen haben sollte. Wem in dieser ganzen verrückten Welt konnte sie überhaupt noch trauen?
Und wenn sie schon einmal dabei war: Warum sollte sie eigentlich ausgerechnet Hernandez trauen?
Pia überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. »Nehmen wir einfach einmal an, dass das alles so ist, Nandes«, sagte sie, wobei sie diesmal ganz bewusst die verkürzte Version seines Namens benutzte. »Was genau haben Sie dann damit zu tun?«
»Mit WeißWald und den Truppen aus der Hauptstadt?« Hernandez schüttelte mit einem angedeuteten Lächeln den Kopf. »Nichts. Mit deiner Freundin und dir vielleicht etwas mehr. Aber das ist ganz und gar deine Entscheidung.«
Pia sah ihn nur fragend an. Und ziemlich verwirrt.
»lch will dir nichts vormachen, Pia«, fuhr Hernandez fort. »Ich bin weder zufällig hier noch ohne Grund. Man hat mich geschickt, um mit euch zu reden.«
Pia wartete einige Sekunden lang vergeblich darauf, dass er von sich aus weitersprach, sah schließlich ein, dass er es nicht tun würde, und fragte: »Und was will man von Alica und mir?«
»Euch helfen«, sagte Hernandez.
Um ein Haar hätte sie laut aufgelacht. »Ja, das passt. Entschuldigen Sie die dumme Frage. Nach all der Zeit hatte ich glatt vergessen, was für ein selbstloser Menschenfreund Sie doch sind.«
»Das bin ich nicht«, antwortete Hernandez ruhig. »Ich war es nie, und ich fürchte, ich werde es auch niemals werden. Dein Misstrauen verletzt mich nicht.« Er hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, hätte mich jede andere Reaktion überrascht. Und wären wir uns ein paar Tage – oder für mich Jahre – früher begegnet, dann wäre deine Angst auch sehr berechtigt gewesen. In den ersten Jahren hier habe ich nur an zwei Dinge gedacht: wieder nach Hause zu kommen und dich und deinen Freund zu töten. Aber das ist lange her.«
»Und inzwischen haben Sie mich ins Herz geschlossen, wie?«
»Nein, es ist viel simpler«, antwortete Hernandez. »Ich kenne dich. Die, die mich geschickt haben, wissen das und waren der Meinung, dass es besser ist, mich zu schicken als einen vollkommen Fremden.«
»Wozu?
»Um dir ein Angebot zu machen. Wir können dir helfen, von hier zu verschwinden. Dir und deiner Freundin.«
»Und warum?«
»Unsere Interessen sind dieselben wie die der anderen«, antwortete Hernandez offen. »Wir wollen wissen, ob du die wirkliche Gaylen bist oder nur eine weitere Betrügerin oder Verrückte.«
»Und warum sollte ich Ihnen trauen, Bracks Leuten aber nicht?«, fragte Pia.
»Weil es einen Unterschied gibt. Auch sie sind auf der Suche nach der echten Gaylen, aber aus vollkommen anderen Gründen. Ich glaube nicht, dass diese Gaylen jemals zurückkommt. Und selbst wenn, glaube ich noch weniger, dass du es bist. Aber wenn sie zurückkommen würde, dann wäre das eine Katastrophe für dieses Land. Es käme zu Unruhen, Aufständen, vielleicht Krieg. Diejenigen, die mich geschickt haben, wollen das nicht. So einfach ist das.«
»Und deshalb soll ich verschwinden.«
»Zumindest aus WeißWald, ja. Danach helfen wir dir das Land zu verlassen.«