»Und wenn ich doch die echte Gaylen sein sollte?«
»Dann ist es umso wichtiger, dass du verschwindest«, sagte Hernandez. »Ich kann dir nichts versprechen, aber es gibt …vielleicht einen Weg, nach Hause zu kommen. Vielleicht auch nicht. Aber bei uns würdet ihr wenigstens weiterleben.«
»Und darauf habe ich Ihr Wort?«, vermutete Pia. »Wie beruhigend. Nein, mehr Beweise brauche ich wirklich nicht. Selbstverständlich kommen wir mit. Ich sage Alica gleich Bescheid, dass sie packen soll.«
Hernandez lächelte knapp. »Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst. Ich an deiner Stelle würde es auch nicht. Warum sprichst du nicht mit deiner Freundin, und ihr stellt ein paar eigene Nachforschungen an?« Er stand auf, trank noch einen Schluck aus einem Krug und stellte ihn dann mit einem übertrieben heftigen Ruck auf den Tisch zurück. »Denk darüber nach. Ich komme zurück und dann reden wir.«
XXIII
Wie er es Istvan versprochen hatte, machte Brack an diesem Abend den Weißen Eber kurz nach Mitternacht dicht und komplimentierte die letzten Gäste hinaus. Das ging längst nicht bei allen ohne lautstarke Proteste und Widerstand ab und hätte in einem Fall beinahe zu Handgreiflichkeiten geführt, wären die beiden Soldaten nicht eingeschritten, von denen Pia nicht sicher war, ob sie durch den Lärm und die Aufregung angelockt von der anderen Straßenseite herübergekommen waren oder doch eher dem Befehl ihres Kommandanten gehorchten und sich überzeugten, dass Brack die vereinbarte Sperrstunde auch tatsächlich einhielt. Pia nutzte die Gelegenheit, sich rasch in ihr Zimmer zurückzuziehen, und als Brack kurz darauf an ihre Tür klopfte und um ein Gespräch bat, wimmelte sie ihn unter dem Vorwand ab, sich nicht wirklich wohlzufühlen und müde zu sein. Ganz leise meldete sich ihr schlechtes Gewissen – nachdem Hernandez gegangen war, hatte Brack mindestens ein Dutzend Mal versucht, ein unauffälliges Gespräch mit ihr zu beginnen, wohl um sich nach dem geheimnisvollen Fremden zu erkundigen, dessen Auftauchen sie so sichtlich verwirrte, aber sie war ihm (mit immer fadenscheiniger werdenden Ausreden) ausgewichen. Vielleicht sorgte er sich ja wirklich um sie. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, für die er nichts konnte, weil er eben so war, wie er war, und sie sich in einer Welt befanden, die nach anderen Regeln und Gesetzen als den ihnen bekannten funktionierte, hatte Brack sich Alica und ihr gegenüber bisher tadellos verhalten und war tatsächlich (mit Ausnahme von Lasar vielleicht, aber den konnte sie immer noch nicht richtig einschätzen) der einzige Mensch, den sie hier mit Fug und Recht als Freund bezeichnen konnte. Vermutlich log Hernandez. Ganz bestimmt log Hernandez. Zu Hause in Rio de Janeiro hätte sie sich überzeugt, ob er die Wahrheit gesagt hatte, hätte sie ihn nur nach der korrekten Uhrzeit gefragt. Wieso also gestattete sie ihm jetzt, Zweifel in ihr Herz zu säen?
Die Antwort auf diese Frage blieb Pia sich schuldig – aber es war ihm gelungen.
Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte? Was, wenn alles, was er erzählt hatte, stimmte und Bracks vermeintliche Freundlichkeit nur dem einzigen Zweck diente, Alica und sie in Sicherheit zu wiegen, bis die Soldaten aus der Hauptstadt kamen und sie abholten?
Mehr als eine Stunde wälzte sie sich unruhig auf dem kalten Bett hin und her und versuchte vergeblich, den winzigen Kern von Wahrheit zu finden, der irgendwo in diesem Durcheinander aus Lügen und Halbwahrheiten verborgen sein musste. Aus dem Erdgeschoss drangen gedämpfte Geräusche herauf, leise Stimmen, die sie als die von Brack und Lasar identifizierte, die unten aufräumten und zu dieser ungewohnt frühen Stunde vermutlich ebenso wenig an Schlaf denken konnten wie sie, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Eine zweite Stunde verging, ohne dass es unten still geworden oder Alica zurückgekommen wäre, und irgendwann, obwohl sie es selbst nicht wollte und sich sogar mit verbissener Kraft dagegen zu wehren versuchte, schlief Pia ein und sank in einen unruhigen, von wirren Albträumen heimgesuchten Schlaf, aus dem sie immer wieder hochschreckte und sich vornahm, dieses Mal nicht einzuschlafen, sondern auf Alicas Rückkehr zu warten.
Natürlich funktionierte es nicht, und der nächste Morgen war der erste seit zwei Wochen, an dem sie wirklich verschlief. Wenn man bedachte, dass sie es normalerweise als persönlichen Angriff auffasste, deutlich vor Mittag aufstehen zu sollen, hatte sie sich erstaunlich schnell an den so radikal anderen Lebensrhythmus der Menschen hier gewöhnt; was sicher zu einem Gutteil an der ungewohnt schweren Arbeit im Gasthaus lag. Wenn der Weiße Eber irgendwann in den frühen Morgenstunden schloss, dann gingen Alica und sie sofort nach oben und schliefen wie Steine; aber mit einer einzigen Ausnahme war sie auch jeden Morgen mit oder zumindest kurz nach dem ersten Sonnenstrahl aufgewacht.
Heute nicht. Noch bevor sie die Augen aufschlug, spürte sie, dass der Tag schon gute zwei Stunden alt sein musste. Die Tür stand offen, und aus dem Erdgeschoss drangen schon wieder gedämpfte Stimmen sowie emsiges Klappern und Hantieren. Es roch nach Essen, und dort unten unterhielten sich eindeutig mehr als nur zwei oder drei Personen. Vielleicht hatte sich Brack ja entschlossen, den Weißen Eber zwar pünktlich um Mitternacht zuzumachen, dafür aber schon vormittags die ersten Gäste zu bewirten, um den entgangenen Verdienst zu kompensieren.
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Pia matt. Ihre Gedanken bewegten sich träge wie durch Nebel, und sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund und leichte Kopfschmerzen, als hätte sie gestern Abend zu viel getrunken – was sie nicht hatte. Irgendwo unter diesem Nebel war das nagende Gefühl, etwas vergessen zu haben, etwas ungemein Wichtiges, aber sie war viel zu benommen, um dieser Spur zu folgen, blinzelte den letzten Schlaf weg und bückte sich in derselben Bewegung, in der sie sich aus dem Bett rollte, nach dem warmen Umhang, den sie am vergangenen Abend abgestreift und achtlos fallen gelassen hatte. Manche schlechte Angewohnheiten, dachte sie mit müden Spott, nahm man offensichtlich sehr schnell an.
Und manche, fügte sie in Gedanken und ein ganz kleines bisschen alarmiert hinzu, als etwas klapperte und ein blitzender Schemen unter dem Berg verschwand, sollte man besser gar nicht erst annehmen. Mit einer so hastigen Bewegung, dass ihr für eine Sekunde schwindelig wurde, bückte sie sich noch einmal und versuchte die Pistole unter dem Bett hervorzuangeln.
Etwas biss scharf und sehr tief in ihre Finger. Pia stieß einen kleinen, eher überraschten Schrei aus, betrachtete eine Sekunde lang verständnislos ihre Fingerkuppen, die aus haarfeinen, aber sehr tiefen Schnitten bluteten, und ordnete dann mit einiger Anstrengung ihre Gedanken, während sie sich gleichzeitig in die Hocke sinken ließ und so vorsichtig unter das Bett spähte, als hätte sie Angst, dort ein zähnefletschendes Raubtier zu erblicken, das nur darauf wartete, sie anzuspringen.
Ihre Erinnerungen spielten ihr offensichtlich einen Streich. Sie hatte den Mantel gestern Abend nicht dort hingeworfen, weil sie ihn gar nicht angehabt hatte, als sie heraufgekommen war, und der blitzende Schemen war auch nicht ihre Pistole gewesen, die irgendwie unter ihrem Kopfkissen hervorgerutscht war. Unter dem Bett lag ein mehr als meterlanges Schwert mit einem goldenen Griff und einer beidseitig geschliffenen, durchsichtigen Klinge.
Pia starrte das Schwert eine geschlagene Sekunde lang verständnislos und ungefähr genauso begeistert an, als hätte sie tatsächlich das erwartete zähnefletschende und ausgesprochen hässliche Ungeheuer entdeckt, streckte dann – sehr behutsam – die Hand ein zweites Mal aus und schloss die noch immer blutenden Finger um den schweren Griff. Er sollte kalt sein, nicht nur weil in diesem Land einfach alles kalt war. Der Griff, dessen Farbe und Konsistenz ihr verrieten, dass er tatsächlich aus purem Gold bestand (oder zumindest damit überzogen war), fühlte sich jedoch ganz im Gegenteil warm und beinahe lebendig in ihrer Hand an, und noch etwas geschah, das Pia noch viel seltsamer vorkam, nachdem sie die Waffe behutsam unter dem Bett hervorgeholt und sich wieder aufgerichtet hatte: Das Schwert war länger als ihr ausgestreckter Arm, und die Klinge war durchsichtig wie sorgsam poliertes Glas, aber auch breiter als ihre Hand. Sie hätte ihr Gewicht spüren müssen, doch das war nicht der Fall. Irgendwie schon – Pia spürte, wie schwer das Schwert war und mit welch unwiderstehlicher Wucht es durch Schilde, Panzerplatten, Rüstungen und im Zweifelsfall auch Fleisch und Knochen schlagen konnte, aber zugleich war es auch so, als wöge es gar nichts, fast wie eine natürliche Verlängerung ihres Armes, die ihr eigenes Gewicht selbst trug.