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Noch vor wenigen Stunden hätte Pia ganz impulsiv darauf genickt. Doch das war, bevor sie mit Hernandez gesprochen hatte. Jetzt zögerte sie gerade lange genug, um dieser Bewegung ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Eine Spur von Trauer mischte sich in Bracks Blick, aber er sagte nichts, sondern wandte sich nur mit einem Ruck ab und stapfte zur Theke, um Lasar mit einem Schwall der üblichen vollkommen aus der Luft gegriffenen Vorwürfe zu überhäufen.

Alica sah ihm irritiert nach, blickte dann genauso nachdenklich und ein bisschen alarmiert auf Pias Hand und setzte sichtlich dazu an, ihrerseits eine entsprechende Frage zu stellen, doch Pia kam ihr zuvor.

»Komm mit«, sagte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und blieb mit der Hand auf dem Türgriff stehen, bis Alica ihr gefolgt war. Sie schloss die Tür nicht ganz, sondern ließ sie einen Spaltbreit offen stehen, damit sich ein gewisser schmerbäuchiger Wirt nicht etwa hinter ihnen anschleichen und das Ohr dagegen pressen konnte, um zu lauschen, bedeutete Alica mit einer befehlenden Geste, ans Fenster zu treten und gleichzeitig still zu sein. Alica gehorchte, auch wenn ihr Gesichtsausdruck nun so ratlos und verstört wurde, dass sie Pia beinahe leid tat.

»Wo bist du die ganze Nacht gewesen?«, begann sie.

»Wie?«, murmelte Alica. Dann verdüsterte sich ihr Gesicht. »Moment mal, Schätzchen. Wir sind zwar vielleicht auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich dir …«

»… dass du mir irgendeine Rechenschaft schuldig bist, nein«, unterbrach sie Pia. »Aber es gibt da ein paar Dinge, die du nicht weißt. Wir können Malu nicht trauen.«

»Ach?«, machte Alica spöttisch.

»Und Brack auch nicht«, fügte Pia hinzu.

Alica legte den Kopf schräg. »Was soll das heißen?«

Pia zögerte noch einen ganz kurzen Moment, dann erzählte sie ihr mit knappen, dennoch sehr eindringlichen Worten, was Hernandez gestern gesagt hatte. Alica hörte mit wachsender Verblüffung zu und versuchte sie zwei- oder dreimal zu unterbrechen, doch Pia brachte sie jedes Mal mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen, bis sie mit ihrem Bericht zum Ende gekommen war.

Diesmal verging fast eine Minute, in der Alica sie einfach nur anstarrte, und Pia konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Und das glaubst du ihm?«, fragte sie schließlich.

Pia trat neben ihr ans Fenster und blickte ein paar Sekunden lang auf die Straße hinab, bevor sie antwortete. Die beiden Soldaten standen immer noch draußen in der Kälte, und auch ansonsten bot die Straße denselben Anblick wie an jedem Morgen: schmal, leicht heruntergekommen, wo kleine Menschen in sonderbaren Kleidern ihren Beschäftigungen nachgingen, herumstanden und redeten oder einfach mit raschen Schritten vorübereilten. Pias Blick blieb für einen Moment an einer Frau mittleren Alters hängen, die gleich drei kleine Kinder im Zaum zu halten versuchte, ohne dass sie auch nur die Spur einer Chance gehabt hätte, es tatsächlich zu schaffen. Zwei von ihnen rissen sich los, rannten im Zickzack über den hart gefrorenen Morast der Straße, prallten plötzlich zurück und wichen nahezu im rechten Winkel von ihrem bisherigen Kurs ab, als sie den beiden Soldaten nahe kamen. Keiner der beiden Männer rührte sich auch nur, aber Pia musste wieder an das denken, was Lasar ihr gestern Abend über die Stadtwache erzählt hatte. Davon hatte sie Alica nichts gesagt, schon deshalb, weil es ihr trotz allem immer noch schwerfiel, es zu glauben.

Hier wirkte alles so harmlos. Vielleicht zu harmlos, dachte sie. Vielleicht war das alles nichts anderes als eine gigantische Falle, in die sie nicht nur sehenden Auges hineingetappt waren, sondern wo sie sich auch noch häuslich eingerichtet hatten.

»Pia?«, fragte Alica.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Aber einiges von dem, was er gesagt hat, gibt durchaus Sinn.«

»Das würde es tun«, stimmte ihr Alica zu, »wenn es nicht ausgerechnet der Comandante gewesen wäre, von dem du das weißt.«

Als ob sie nicht auch schon darüber nachgedacht hätte!

»Ich bin nicht ganz sicher, ob er wirklich noch der Comandante ist«, sagte sie.

»Was soll das heißen?«

Pia hob in einer hilflos wirkenden Geste die Schultern. Ihr Blick folgte den Kindern, die ihren Schrecken überwunden zu haben schienen und weiter auf der Straße herumtollten und ihre Mutter damit langsam, aber sicher an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten. Ohne dass sie selbst es auch nur merkte, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Aber zugleich, tief darunter verborgen, spürte sie auch einen stärker werdenden Groll. Die Vorstellung, dass Hernandez die Wahrheit gesagt haben könnte, erfüllte sie mit einem Zorn, der sie selbst überraschte.

»Pia?«, fragte Alica wieder.

Pia riss ihren Blick mit einiger Anstrengung von der Straße los und drehte sich zu ihr herum.

»Ich will ja nicht penetrant erscheinen«, sagte Alica, »aber wenn man eine solche Geschichte erzählt wie du gerade, dann gebietet es eigentlich der Anstand, das Gespräch auch zu Ende zu führen.«

Im ersten Moment verstand Pia gar nicht, was sie meinte; dann wurde ihr klar, dass sie sehr lange dagestanden und auf die Straße hinabgeblickt hatte. »Entschuldige«, murmelte sie. »Wo waren wir?«

Alica zog eine Grimasse, beherrschte sich aber. »Der Comandante«, erwiderte sie. »Du warst der Meinung, er wäre es nicht mehr. Wie darf ich das verstehen? Ist ihm ein drittes Auge gewachsen?«

Pia blieb ernst. »Er ist … irgendwie anders«, sagte sie. »Wenn er die Wahrheit sagt und tatsächlich schon seit zwölf Jahren hier ist, dann hat er vielleicht Zeit gehabt, über das eine oder andere nachzudenken.«

»Ja, und wahrscheinlich ist er zu einem guten Menschen mutiert, neben dem selbst Gandhi wie ein Charakterschwein wirkt«, sagte Alica.

Pia lächelte flüchtig. Die Vorstellung, dass Hernandez plötzlich zu jemandem geworden sein sollte, dem sie trauen konnten, war in der Tat schlichtweg absurd. Aber eigentlich hatte er das ja auch nie behauptet.

»Wahrscheinlich hast du recht, und er verfolgt seine eigenen kleinen Pläne«, sagte sie. »Aber das bedeutet nicht, dass das, was er über Istvan und Brack erzählt hat, unbedingt gelogen sein muss, oder?« Alica wollte widersprechen, doch Pia fuhr mit leicht erhobener Stimme – und einem sichernden Blick in Richtung der Tür – fort: »Wenn alles so ist, wie er behauptet, dann hat Brack wahrscheinlich gar keine andere Wahl.«

»Brack ist …«, begann Alica, doch Pia unterbrach sie sofort.

»Was glaubst du, was Esteban an seiner Stelle tun würde?«

Das schien Alica einzuleuchten. Zwar gefiel es ihr nicht, wie ihr Gesichtsausdruck deutlich machte, aber sie widersprach auch nicht mehr, sondern ließ nur ein missmutiges »Hm« hören.

»Ich behaupte ja nicht, dass Brack ein Lump ist und wir ihm gar nichts mehr glauben können«, sagte Pia hastig. Sie wusste selbst nicht genau, warum, doch irgendetwas in ihr war wild entschlossen, Brack zu verteidigen. »Aber jetzt ergibt das alles hier ein bisschen mehr Sinn … oder findest du es nicht selbst komisch, dass wir hier praktisch Narrenfreiheit haben, obwohl die guten Leutchen hier spießiger sind, als wir uns vor zwei Wochen auch nur vorstellen konnten?«

»Narrenfreiheit?« Alica warf einen demonstrativen Blick auf die beiden frierenden Soldaten vor dem Haus und machte ein spöttisches Gesicht, aber Pia schüttelte noch entschiedener den Kopf.

»Vielleicht sind sie ja auch da, um auf uns aufzupassen«, sagte sie. »Immerhin sind wir sein … wie hat er es gerade ausgedrückt? Größter Schatz.«

»Das hat er gesagt?«

»Weißt du, ich glaube einfach nicht, dass diese Typen ganz zufällig aufgetaucht sind, kaum dass wir mit dieser Wahrsagerin gesprochen haben«, sinnierte Pia. »Vielleicht will ja jemand verhindern, dass wir mit den falschen Leuten sprechen.«