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Pia seufzte. »Er ist noch nicht hier«, sagte sie. »Wir sollen gegen Mitternacht wiederkommen oder später.«

»Du meinst, weil unser Freund Istvan in spätestens einer Stunde weiß, nach wem wir gesucht haben?«, fragte Alica und machte eine verstohlene Augenbewegung in Richtung der beiden Soldaten.

Pia zuckte übertrieben trotzig mit den Schultern. »Ich kann nichts dafür, dass Brack sein Fleisch nur bei diesem einen Händler kauft«, antwortete sie.

»Clever«, lobte Alica. »Aber nicht clever genug. Darauf fallen sie bestimmt nicht rein. Warum fragst du den Typen nicht, wo wir diesen Terdingsbums finden? Wir könnten ihm entgegengehen.«

»Und das ist eine noch schlechtere Idee«, seufzte Pia. »Aber bevor du fragst: Ich habe auch keine bessere.«

»Jede Idee wäre besser gewesen als die, hierherzukommen«, raunte eine Stimme neben ihr.

Pia hob den Kopf, sah niemanden und musste sich zusammenreißen, um nicht zu verwirrt auszusehen. Sie waren allein, jedenfalls im Umkreis von acht oder zehn Schritten – abgesehen von den Wachen war die ihnen am nächsten stehende Person ein uralter Mann in heruntergekommenen Kleidern, der ein schmales, von zu vielen Jahren zu harter Arbeit und zu großen Entbehrungen gezeichnetes Gesicht und schulterlanges, strähniges Haar hatte. Er war mit irgendetwas beschäftigt, das Pia nicht genau erkennen konnte, sah aber immer wieder in ihre Richtung und machte auch gar keinen Hehl aus seiner Neugier. Eigentlich war er viel zu weit entfernt, als dass es seine Stimme gewesen sein konnte, doch Pia erwog den Gedanken trotzdem einen Moment lang ernsthaft … aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein. Es war die Stimme einer jungen Frau gewesen, nicht die eines Greises, und –

»Kommt zum Tor«, fuhr die Stimme fort. Sie klang immer noch wie die Stimme einer jungen Frau und sie erklang immer noch direkt an Pias Ohr, die gerade sah, wie sich die Lippen des alten Mannes bewegten. Das war vollkommen unmöglich, aber es war trotzdem so. »Aber kommt ohne die Wachen. Ich sorge dafür, dass sie abgelenkt sind. Wartet einen Moment, bis ihr mir nachfolgt.«

Der alte Mann drehte sich mühsam herum und schlurfte mit hängenden Schultern und leicht humpelnd davon.

»Kennst du den Alten?«, fragte Alica stirnrunzelnd.

»Nein«, antwortete Pia. »Aber hast du …« Nichts gehört? Sie schluckte die beiden letzten Worte hinunter, schüttelte übertrieben heftig den Kopf und deutete einen verstohlenen Blick in Richtung der beiden Wachen an. Alica antwortete auf dieselbe lautlose Art.

Pia bezweifelte, dass sie wirklich verstand, was geschehen war, aber immerhin stellte sie keine weitere Frage mehr. Gemeinsam wandten sie sich um und gingen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Dabei fiel Pia noch ein Unterschied auf: Bisher hatten sich die beiden Männer stets mehr oder weniger diskret im Hintergrund gehalten, gerade nahe genug, um sie nicht vergessen zu lassen, dass sie da waren. Jetzt war Pia nicht einmal sicher, ob sie ihnen überhaupt aus dem Weg gehen würden oder es vielleicht Alica und sie waren, die ihnen ausweichen mussten. Eine der Wachen trat erst im allerletzten Moment zur Seite und auch das erst, nachdem Pia dem Mann einen eisigen Blick zugeworfen hatte.

Sie versuchte sich einzureden, dass es nur an der Müdigkeit der beiden Männer lag und vielleicht an ihrer Nervosität und der ungewohnten Umgebung, aber tief in sich wusste sie natürlich, dass das nicht stimmte. Etwas hatte sich geändert.

Möglicherweise die Befehle, die Istvan seinen Soldaten erteilt hatte …

»Und wohin jetzt?«, fragte Alica, während sie die beiden Männer ebenfalls mit leicht verwirrtem Gesicht ansah.

»Zurück in den Weißen Eber«, antwortete sie laut genug, damit die vier gespitzten Ohren hinter ihnen die Worte auch ganz bestimmt hörten. »Oder hast du Lust, bis Mitternacht hier zu warten, damit Brack sein Fleisch ein paar Kreuzer billiger bekommt?«

Alica sah sie nun vollkommen verstört an, und ein (nicht einmal so kleiner) Teil von Pia fragte sich, ob es wirklich klug war, einem wildfremden Greis zu vertrauen, mit dem noch dazu etwas nicht stimmte.

Ein kleinwüchsiger Kerl mit wehendem schwarzem Haar tauchte wie aus dem Nichts auf, flitzte zwischen Alica und ihr hindurch und rannte so dicht an den beiden Soldaten vorbei, dass er sie um ein Haar angerempelt hätte. Beide starrten ihm verdutzt nach, und der eine Soldat sagte irgendetwas und lachte leise. Der andere begann ebenfalls zu lachen, allerdings nur für einen Moment, dann sah er an sich hinab, und aus seinem glucksenden Lachen wurde ein Schrei jäher Wut, als er feststellte, dass ihm etwas fehlte. »Mein Geld!«, brüllte er. »Der Knirps hat meinen Geldbeutel gestohlen! Halt ihn auf!« Unverzüglich stürmten sein Kamerad und er hinter dem Jungen her, obwohl der Vorsprung des Kleinen bereits viel zu groß war, als dass sie ihn noch einholen konnten.

Alica wollte sich umdrehen und loslaufen, aber Pia hielt sie mit einer raschen Bewegung am Arm zurück und schüttelte den Kopf. »Warte«, sagte sie rasch.

Und zu Recht. Die beiden Soldaten mochten übermüdet und vielleicht nicht die Hellsten sein, aber sie waren auch nicht dämlich. Der, dessen Geldbörse der Junge stibitzt hatte, rannte zwar unverdrossen hinter ihm her, obwohl auch ihm klar sein musste, dass er keine Chance hatte, den Dieb einzuholen, aber sein Kamerad lief nur zwei oder drei Schritte weit und drehte sich dann abrupt wieder um. Pia war klar, dass er das nicht nur tat, weil er klüger oder vielleicht auch einfach bequemer als der andere sein mochte und es schließlich nicht sein Geldbeutel war.

»Mist!«, sagte Alica inbrünstig.

Pia machte nur eine besänftigende Geste, und sie hatte es kaum getan, da stieß der zweite Soldat einen triumphierenden Schrei aus, denn der Junge war ins Stolpern gekommen, kämpfte einen Moment lang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und fiel dann der Länge nach hin. Der Soldat ließ seine Hellebarde fallen und griff noch weiter aus, um den frechen Dieb nun vielleicht doch einzuholen, und der Junge rappelte sich hastig auf und beging dabei einen fatalen Fehler, indem er sich an einem der erst halb aufgebauten Gatter hochzuziehen versuchte. Dessen Besitzer – der wenig freundliche Kerl, mit dem Pia gerade gesprochen hatte – warf erbost beide Arme in die Luft und schrie irgendetwas sehr Unanständiges. Der Junge erschrak und riss das Gatter mit einer ungeschickten Bewegung endgültig zu Boden.

Und damit begann die Katastrophe erst.

Der Viehhändler schrie auf, als wäre er in einen glühenden Nagel oder Schlimmeres getreten, und das halbe Dutzend Zwergrinder, das er gerade so mühsam in die Koppel getrieben hatte, ergriff sofort und kollektiv die Flucht.

Der Junge war mit einer blitzartigen Bewegung verschwunden, und auch der Soldat fuhr auf dem Absatz herum und vergaß auf der Stelle seine Geldbörse, als er eine lebende Lawine mit zahllosen spitzen Hörnern und noch mehr trommelnden Hufen auf sich zurasen sah.

»O verdammt«, keuchte Alica. »Nichts wie weg hier!«

Diesmal widersprach Pia ihr nicht, sondern sürmte los. Hinter ihnen brach ein gewaltiger Tumult aus Schreien, dem Stampfen von Hufen und dem Blöken der durchgehenden Tiere los, aber sie hörte auch das Splittern von Holz, und als sie im Laufen zurücksah, erkannte sie, dass die durchgehende Herde eine weitere Koppel eingerissen hatte, deren Bewohner sich der beginnenden Stampede anschlossen. Der Chor aus gleichermaßen erschrockenen wie wütenden Schreien wurde lauter. Von überall her kamen jetzt Menschen herbeigeeilt, um die durchgehenden Rinder wieder einzufangen.

Alica schwenkte nach links, auf den Rand des Marktplatzes und die vermeintliche Sicherheit der Straße dahinter zu, aber Pia packte blitzschnell ihr Handgelenk und riss sie so derb in die entgegengesetzte Richtung, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

»Bist du …?«, keuchte sie und brach dann mit einem erschrockenen Schrei ab, als etwas Kleines und Wuscheliges so dicht an ihr vorbeidonnerte, dass das Horn einen Streifen aus ihrem Mantel riss. Das Rind war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war, aber Pia konnte die ungeheure Kraft der Kreatur regelrecht spüren.