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»Bist du verletzt?«, keuchte sie.

»Nein«, stieß Alica atemlos hervor. »Aber du, sobald das hier vorbei ist und ich wieder halbwegs zu Atem gekommen bin, verlass dich darauf!«

Pia musste trotz allem flüchtig lächeln, allerdings wirklich nur für einen ganz kurzen Moment, dann warf sie einen raschen Blick über die Schulter und verwandte ihre Energie lieber darauf, noch ein bisschen schneller zu laufen. Hinter ihnen war nicht wirklich eine Stampede ausgebrochen, allerdings etwas, das gut dazu werden konnte und ganz gewiss über ein kleines Ablenkungsmanöver hinausging. Mindestens ein weiteres Gatter war zusammengebrochen, sodass sich die Anzahl der flüchtenden Tiere noch einmal erhöht hatte, und wäre mittlerweile nicht beinahe jedermann auf dem Markt unterwegs hierher, um den Schaden in Grenzen zu halten, dann wäre möglicherweise der ganze Viehmarkt binnen weniger Augenblicke im Chaos versunken.

Wenigstens die beiden Wachen waren spurlos verschwunden, und Pia ertappte sich bei dem nicht so netten Gedanken, dass ihr vielleicht nicht gerade das Herz brechen würde, wenn sie unter die Hufe geraten wären.

»Kannst du mir mal verraten … wohin wir überhaupt … rennen?«, stieß Alica keuchend neben ihr hervor.

Pia sah noch einmal rasch über die Schulter zurück, bevor sie antwortete. Mit Ausnahme des einen Rindes, das Alica beinahe über den Haufen gerannt hätte, bewegte sich keines der Tiere in ihre Richtung – aber sie waren auch so ziemlich die Einzigen, die wie von Furien gehetzt in Richtung der Mauer liefen, statt vom Ort des Chaos fort. Ein rascher Blick zum Wehrgang hinauf zeigte ihr jedoch, dass keine der Wachen dort oben auch nur Notiz von Alica und ihr nahmen. Die Männer hatten ausnahmslos auf ihrer Streife haltgemacht, blickten auf das immer noch größer werdende Chaos herab und genossen offensichtlich die Show.

»Dorthin«, sagte sie mit einer Geste auf das Tor. Auch der Posten, der normalerweise dort stand, war verschwunden und nahm vermutlich an der allgemeinen Treibjagd teil.

»Aus der Stadt?«, ächzte Alica. »Was für ein brillanter Plan! Und was dann? Lassen wir uns von Bäumen fressen oder ziehst du Erfrieren vor?«

Statt zu antworten, rannte Pia nur noch schneller und zerrte Alica einfach mit sich, bis sie den mächtigen Torbogen erreichten und keuchend stehen blieben. Das halb heruntergelassene Fallgatter am anderen Ende des Tunnels schien unendlich weit entfernt, aber Pia sah auch die schwarze Silhouette der beiden Posten, die dort standen und sich, durch den Lärm aufmerksam geworden, in ihre Richtung gedreht hatten. Rasch machte sie einen Schritt zur Seite, legte Alica die Hand auf die Schulter und wob einen schützenden Mantel aus Schatten um sie beide.

»So, und jetzt möchte ich … wirklich wissen, was der …Quatsch soll!«, stieß Alica mühsam um Atem ringend hervor. Sie setzte dazu an, ihre Hand abzuschütteln, sah dann zum anderen Ende des Tunnelgewölbes hin und ließ es bleiben.

»Ihr beherrscht die Magie der Schatten«, sagte eine Stimme irgendwo neben ihnen. »Das ist gut, vielleicht seid Ihr tatsächlich die, auf die wir schon so lange warten.«

Alica und Pia fuhren im gleichen Moment erschrocken herum, und um ein Haar wäre Alicas Hand von ihrer Schulter gerutscht.

»Aber natürlich ist das noch lange kein Beweis«, setzte die körperlose Stimme fort. Etwas raschelte, dann löste sich eine kleinwüchsige Gestalt mit strähnigem Haar aus den Schatten des Gewölbes und lächelte aus einem vom Alter zerfurchten Gesicht zu ihr hoch.

»Sag mir bitte nicht, dass wir das ganze Chaos losgetreten haben, weil dieser Opa mit uns reden wollte!«, ächzte Alica.

»Das war nicht besonders nett von dir, mein Kind«, sagte der Greis. »Der Tag, an dem andere so über dich reden, ist vielleicht schon näher, als dir im Moment klar sein mag.«

»Also, bis dahin vergehen schon noch ein paar …«, begann Alica, brach dann mitten im Wort ab und riss die Augen auf. »Wieso verstehst du mich?«

Der alte Mann lächelte und gewährte Alica und Pia nicht nur einen Blick auf ein verfaulendes Gebiss, das kaum noch aus einem Dutzend Zähne bestand, sondern brachte sie auch in den Genuss seines grässlichen Mundgeruchs. Dann …

Pia hätte nicht sagen können, ob er noch einmal in den Schatten der Wand zurücktrat oder die Schatten sich irgendwie von der Wand lösten und seine Gestalt für einen unendlich kurzen Moment einhüllten … aber als es vorbei war, da stand kein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht mehr vor ihnen, sondern eine Frau, die nur wenig älter sein konnte als Pia, glattes, bis weit über die Schultern fallendes helles Haar und perfekte Zähne hatte. Und übrigens ganz und gar keinen Mundgeruch.

»Wie du siehst, gibt es auch andere, die sich auf das Weben von Schatten verstehen«, fügte Valoren hinzu, nun wieder an Pia gewandt.

»Ja, und noch ein paar andere Tricks, wie es aussieht.«

»Valoren?«, murmelte Alica ungläubig.

Die Wahrsagerin maß sie mit einem spöttischen, aber sehr gutmütigen Blick. »Ja, als ich das letzte Mal mit euch gesprochen habe, war das mein Name … glaube ich. Doch du solltest etwas leiser reden. Die Akustik in diesem Gewölbe ist sehr gut, und die Schatten bewahren euch vielleicht davor, gesehen, aber nicht davor, gehört zu werden.«

»Ja, Massa«, antwortete Alica Grimassen schneidend. »Bitte entschuldige, dass die dumme Sklavin nicht nachgedacht hat. Sie wird sich bemühen, nicht mehr so laut zu atmen.«

»Lass den Blödsinn«, sagte Pia scharf – obwohl Valoren nur mit einem durchaus amüsierten Lächeln auf ihre Worte reagierte. Direkt an die Wahrsagerin gewandt fuhr sie fort: »Also, da sind wir.«

»Ja, das sehe ich«, antwortete Valoren. Sie lächelte unerschütterlich weiter, aber etwas änderte sich in ihrem Blick.

»Du siehst nicht besonders begeistert aus.«

»Es war auch nicht besonders … klug, hierherzukommen«, antwortete Valoren mit einem hörbaren Zögern.

Pia wollte auffahren, doch Alica kam ihr zuvor, indem sie mit einem raschen Blick zwischen sie und die Wahrsagerin trat und sich dann demonstrativ herumdrehte, um zu dem Markt zurückzusehen. Das Chaos dort hatte nicht zugenommen, war aber auch noch nicht sichtbar kleiner geworden. »War dieses Ablenkungsmanöver so drastisch geplant oder ist es dir ein wenig aus dem Ruder gelaufen?«, fragte sie harmlos.

Einen halben Atemzug lang wirkte Valoren einfach nur verblüfft, doch dann lachte sie. Es klang echt. »Sagte ich schon, dass du dich sehr glücklich schätzen kannst, eine solche Freundin zu haben, Gaylen?«, fragte sie, wurde aber auch praktisch sofort wieder ernst und machte ein fast betrübtes Gesicht. »Manchmal entwickeln sich die Dinge anders als geplant«, gab sie zu. »Dennoch war es ein Fehler, hierherzukommen.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du uns hierherbestellt«, sagte Alica.

Valoren sah unerschütterlich weiter Pia an, als sie antwortete, und in ihrer Stimme war jetzt ein deutlicher Klang von Tadel zu hören. »Ich hatte euch gesagt, dass ihr euch mit Ter Lion treffen sollt«, sagte sie. »Im Allgemeinen findet ein solches Treffen eher heimlich statt oder doch zumindest in einem … etwas kleineren Kreis, und ein wenig diskreter. Ich hätte nicht erwartet, dass ihr auf dem Markt herumlauft und laut genug nach Ter Lion fragt, damit die ganze Stadt seinen Namen kennt.«

Pia machte ein betroffenes Gesicht und zerbrach sich vergeblich den Kopf nach einer Antwort.

Alica hatte weniger Hemmungen. »Ganz so laut war es im Grunde nicht«, sagte sie scharf. »Eigentlich hat es nur irgend so ein Viehtreiber gehört.«

»Und Istvans Männer«, fügte Valoren hinzu. »Sie sind seine Augen und Ohren. Wusstest du das nicht, mein Kind?«

»Du hast gesagt, wir sollen uns mit Ter Lion treffen«, antwortete Alica ungerührt. »Wenn man von einem Mann nur den Namen und sonst gar nichts weiß, dann muss man schon nach ihm fragen, oder?«