Выбрать главу

»Bleib sofort stehen, verdammt!«, brüllte der Gardist. »Gib mir mein Geld zurück!« Dann war auch er verschwunden.

Der Mann legte zwar ein ganz erstaunliches Tempo an den Tag, aber Pia hatte vorhin gesehen, wie schnell der Kleine war. Der Gardist hatte keine Chance, ihn einzuholen. Andererseits tat ein kleiner Schrecken dem Nachwuchs-Taschendieb vielleicht ganz gut. Pia erinnerte sich an die eine oder andere Gelegenheit aus ihrer eigenen Kindheit, bei der sie in der Rolle des Knirpses gewesen war. Ein paarmal war es ziemlich knapp gewesen, auch wenn sie es damals verständlicherweise nicht so gesehen hatte. Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie Lasar von ihrer Jugend in verschiedenen Kinderbanden erzählt hatte, aber ein wichtiges Detail für sich behalten: Die meisten ihrer ehemaligen Bandenmitglieder saßen heute entweder im Gefängnis oder waren tot.

»Fast wie zu Hause, wie?«, feixte Alica, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Wollen wir wetten, ob er wieder auf die Nase fällt oder der Kleine ihm einfach davonläuft?«

»Drei zu eins auf Davonlaufen«, sagte Pia. »Der Knirps ist schnell.«

»Die Wette halte ich«, sagte Alica. »Ich bin sicher, dass er ihn zuerst noch ein bisschen tanzen lässt. Die Verliererin zahlt den Rückflug nach Hause.«

Pia bekundete mit einem Lachen ihr Einverständnis, und noch während sie hinter dem Soldaten um die Ecke bogen, konnte Pia spüren, wie das Lächeln auf ihren Lippen zu einer erschrockenen Grimasse gefror. Keiner von ihnen würde den Rückflug bezahlen müssen, aber der wahre Verlierer war wohl der Junge. Vielleicht hätte sie ihm doch Glück wünschen sollen statt eines kleinen Schreckens, der ihn dazu bewegen hätte sollen, in sich zu gehen und über sein Leben zu philosophieren.

Sie konnte nicht sagen, was genau passiert war. Vielleicht war der Junge gestolpert oder gegen einen Passanten geprallt, oder er hatte tatsächlich versucht, seinen Verfolger noch ein bisschen zu foppen, und war ihm dabei zu nahe gekommen – auf jeden Fall bekam er gerade einen weitaus größeren Denkzettel als den, den Pia ihm insgeheim gegönnt hatte. Einen ziemlich schmerzhaften Denkzettel. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch und strampelte verzweifelt mit Armen und Beinen, um sich loszureißen, was aber vollkommen aussichtslos war. Der Soldat kniete mit einem Bein auf seinem Rücken und hatte die linke Hand in sein Haar gekrallt, um seinen Kopf brutal in den Nacken zu reißen. Der Junge keuchte vor Angst und Schmerz, und sein Gesicht war blutüberströmt. Mit der anderen Hand grub der Soldat hektisch in den Taschen des Jungen.

»Ich glaube, das reicht«, sagte Pia scharf. »Du hast dein Geld wieder, oder?« Sie musste sich auf die Zunge beißen, um den Kerl nicht anzuschreien. Seinen Ärger konnte sie ja durchaus verstehen – niemand ließ sich gerne bestehlen –, nicht aber seine vollkommen übertriebene Brutalität.

»Der Bursche hat mich bestohlen!«, antwortete der Soldat wütend. »Er bekommt nur, was ihm zusteht!« Mit einem triumphierenden Laut holte er den Lederbeutel mit seiner Barschaft unter der Kleidung des Jungen hervor, steckte ihn ein und zog in der gleichen Bewegung einen Dolch aus dem Gürtel, mit dem er dem Jungen die Kehle durchschnitt.

Pia war viel zu schockiert, um irgendetwas zu tun. Sie sah, was passierte, aber ein Teil von ihr weigerte sich einfach zu glauben, was sie sah.

Dann überwand sie ihren Schock, sprang mit einem Schrei vor und versetzte dem Kerl einen Fußtritt ins Gesicht, der ihn kreischend vom Rücken des Jungen schleuderte und Blut sowie abgebrochene Zähne spucken ließ. Noch bevor er auf dem Rücken landete, fiel Pia neben dem Jungen auf die Knie und drehte ihn herum.

Sie sah sofort, dass sie zu spät gekommen war. Der Junge lebte noch, aber seine Augen waren nicht nur voller ungläubigem Entsetzen und Schmerz, sondern auch schon von etwas anderem und Dunklerem erfüllt, das darunter heranwuchs und rasend schnell stärker wurde. Seine Lippen bewegten sich, als er ebenso verzweifelt wie vergeblich zu atmen versuchte, dann ergoss sich ein Schwall aus hellrotem, schaumigem Blut über seine Lippen und vereinigte sich mit dem warmen Strom, der aus seiner durchschnittenen Kehle quoll. Er bäumte sich auf, krallte die Hände im Pias Umhang und starb.

Und irgendetwas in Pia schien mit ihm zu sterben. Noch immer viel zu schockiert, um mehr als dumpfes Entsetzen und pure Verweigerung zu empfinden … war in ihrem Innersten doch ein brodelndes Feuer, das ebenso langsam wie unaufhaltsam emporstieg, eine ohnmächtige Wut, die sie lähmte. Sie saß einfach da, starrte den toten Jungen an und weigerte sich immer noch zu begreifen, was sie gerade gesehen hatte. Und vielleicht wäre das sogar so geblieben, hätte sich der Soldat nicht in diesem Moment torkelnd in die Höhe gestemmt. Die untere Hälfte seines Gesichts war beinahe genauso blutig wie die des Jungen, und seine Lippen schwollen so schnell an, dass man tatsächlich dabei zusehen konnte. In seinen Augen schimmerten Tränen, aber da war auch ein Zorn, den er kaum noch beherrschen konnte.

»Was fällt dir ein, du verdammtes Miststück!«, heulte er. »Du hast mir die Zähne eingetreten! Dafür bezahlst du, und es ist mir auch vollkommen egal, wer du bist oder zu sein behauptest!«

Er spuckte einen Klumpen blutigen Schleim und weitere Zahnsplitter aus, wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen und torkelte weiter auf sie zu, und das nächste, woran Pia sich erinnerte, war, dass sie auf ihm saß, seine Arme mit den Knien gegen den Boden presste und ihm abwechselnd die rechte und die linke Faust ins Gesicht schlug, zweimal, dreimal, viermal, immer und immer wieder, obwohl er schon nach dem zweiten oder dritten Hieb aufhörte sich zu wehren, und nach dem fünften oder sechsten auch, sich zu bewegen.

Eine schmale Hand schloss sich um ihr Handgelenk und versuchte sie festzuhalten, aber sie war nicht stark genug. Pia riss sich los, schlug noch einmal und mit noch größerer Wucht zu und spürte die Nase des Mannes brechen; nicht zum ersten Mal.

»Pia, verdammt noch mal, hör auf!« Alica versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die grellen Schmerz vor Pias Augen explodieren ließ und ihren Mund mit dem Geschmack ihres eigenen Blutes füllte. Aber sie riss sie auch in die Wirklichkeit zurück. Die lodernde Wut war noch immer in ihr, doch es gelang ihr nun, sie zu beherrschen und sogar ein wenig zurückzudrängen. Nicht annähernd weit genug, damit sie ihre Gedanken nicht weiter mit purer Mordlust überschwemmte – aber Pia hörte wenigstens auf, weiter wie von Sinnen auf den Soldaten einzuprügeln.

»Verdammt noch mal, was ist denn in dich gefahren?«, fauchte Alica. »Wolltest du den Kerl umbringen?«

Pia blickte auf die reglose Gestalt und fragte sich, ob sie das nicht bereits getan hatte. Der Mann rührte sich nicht und gab auch nicht mehr den geringsten Laut von sich. Sie konnte nicht einmal mehr erkennen, ob er noch atmete. Es war ihr auch vollkommen egal. »Hast du gesehen, was der Kerl gemacht hat?«, fragte sie tonlos.

»Ja«, antwortete Alica. »Und wenn du ihn nicht niedergeschlagen hättest, dann hätte ich es getan. Aber ihn umzubringen wäre nicht besonders klug. Ich glaube nicht, dass Istvan besonders viel Verständnis dafür hätte.« Sie streckte die Hand aus, und Pia ließ sich von ihr aufhelfen und registrierte erst jetzt, dass der zweite Soldat auch nicht mehr auf den Beinen stand, sondern zwei Schritte entfernt auf den Knien hockte und sich die blutende Nase hielt.

»Schätze, er wollte seinem Kumpel zu Hilfe eilen«, sagte Alica achselzuckend. »Aber das konnte ich leider nicht zulassen.«

Pia lächelte knapp, und hinter ihr sagte eine ihr nur zu vertraute Stimme: »Ich sehe, du hast nichts verlernt, trotz all der Zeit.«

Pia fuhr erschrocken herum und klammerte sich für den kurzen Moment, den sie für die Bewegung brauchte, noch an die verzweifelte Hoffnung, sich zu täuschen, obwohl sie die Stimme zweifelsfrei erkannt hatte.