Sie hatte sich nicht getäuscht.
»Aber eigentlich hättest du dem armen Kerl da zu Hilfe kommen müssen«, fuhr Hernandez mit einem dünnen Lächeln und an Alica gewandt fort. »Was allerdings auch keinen Unterschied gemacht hätte, fürchte ich.«
Damit trat er an Alica vorbei, grub die Hand in das Haar des knienden Soldaten und tat dasselbe, was dessen Kamerad gerade mit dem wehrlosen Jungen gemacht hatte: Er zog einen Dolch aus dem Gürtel und schnitt ihm die Kehle durch. Noch während der Mann zur Seite fiel und röchelnd an seinem eigenen Blut erstickte, beugte sich Hernandez zu dem zweiten Soldaten hinab und verfuhr mit ihm genauso.
Pia sah ihm zu, erfüllt von lähmendem Entsetzen. Sie hätte erwartet, dass es ihr nichts ausmachte nach dem, was der Gardist gerade mit dem wehrlosen Jungen getan hatte, aber der Tod der beiden Männer entsetzte sie ebenso sehr wie der des Kindes. Auf eine gewisse Art vielleicht sogar noch mehr, denn der Soldat hatte zumindest einen Grund für das gehabt, was er getan hatte, während Hernandez beinahe gelangweilt wirkte.
Sorgsam wischte er die blutige Klinge am Mantel des Toten ab und schob sie unter seinen Gürtel zurück, bevor er sich wieder zu Alica und ihr herumdrehte.
»Du hast recht«, sagte Alica mit belegter Stimme. »Es ist tatsächlich Hernandez.« Sie maß den hochgewachsenen Mann mit einem kalten Blick. »Wollen Sie die Toten nicht ein wenig fleddern, Comandante? Ich glaube, der eine hat einen Beutel mit Münzen dabei.«
»Im Prinzip ist das keine schlechte Idee«, antwortete Hernandez lächelnd. »Aber leider wird die hiesige Währung dort, wo ich hingehe, nicht akzeptiert.«
»Ich wusste, dass Sie ein Schwein sind, Hernandez«, sagte Alica. »Aber für einen kaltblütigen Mörder habe ich Sie bisher nicht gehalten.«
Hernandez sah ein bisschen beleidigt aus, fand aber nach zwei oder drei Sekunden wieder zu seinem maliziösen Lächeln zurück. »So groß ist der Verlust nicht«, sagte er achselzuckend. »Istvan hätte sie sowieso getötet, wenn er erfahren hätte, mit wem ihr euch gerade getroffen habt.«
Alica sah ihn mit schlecht gespielter Ratlosigkeit an, während Pia erst gar nicht versuchte ihren Schrecken zu verhehlen. Wieso wusste Hernandez, was gerade auf dem Viehmarkt geschehen war? Gehörten Valoren und er am Ende sogar …?
Nein. Sie gestattete sich nicht einmal, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Sie wusste so gut wie nichts über ihre seltsame Verbündete, aber die bloße Vorstellung, dass Henandez und sie zusammengehören sollten, war vollkommen absurd.
»Nun, Prinzessin Gaylen«, fuhr Hernandez spöttisch fort. »Habt Ihr über die Frage nachgedacht, die ich Euch gestern Abend gestellt habe?«
»Welche Frage?«, erkundigte sich Alica misstrauisch.
»Jetzt bin ich ein bisschen enttäuscht«, sagte Hernandez. »Ich dachte, ihr wärt Freundinnen. Und du hast ihr etwas so Wichtiges verschwiegen?«
»Was hast du mir verschwiegen?«, fragte Alica.
»Gar nichts«, antwortete Pia. »Nur seinen Vorschlag, ihn zu begleiten.«
»Ja, das war schon immer mein Traum«, sagte Alica. »Zusammen mit einem durchgeknallten Killer von hier wegzugehen. Ich könnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen, Hernandez.«
»Nur Nandes bitte«, erwiderte Hernandez. »Dieser Name … weckt gewisse Erinnerungen, die mir nicht besonders angenehm sind.«
»Das sollte doch eigentlich jeder einzelne Blick in den Spiegel auch tun«, antwortete Alica spitz.
Hernandez – Nandes – machte ein amüsiertes Gesicht. »Hast du hier schon einen Spiegel gesehen, seit ihr hergekommen seid?«, fragte er und beantwortete seine eigene Frage gleich mit einem Kopfschütteln. »Es hat auch einen oder zwei Vorteile, in einer derart rückständigen Gesellschaft zu leben. Nicht besonders viele, ich gebe es zu, aber immerhin ein paar. Und um auf dein Argument zu antworten: Ich fürchte, euch bleibt keine andere Wahl, als meine Einladung anzunehmen.« Er deutete auf die beiden Toten. »Istvan wird nicht besonders begeistert sein, dass ihr zwei seiner Männer getötet habt.«
»Wir?!«, ächzte Alica.
»Wer sollte es sonst getan haben?«, erkundigte sich Hernandez. »Ich bin gar nicht da.«
Alica setzte zu einer scharfen Antwort an, sah sich rasch nach rechts und links um und machte dann ein betroffenes Gesicht, und auch Pia fiel plötzlich auf, dass sie vollkommen allein auf der Straße waren. Vom Markt her drangen noch immer die durcheinander hallenden Stimmen zahlreicher Menschen und das Blöken und Wiehern von Vieh an ihr Ohr, aber hier war es vollkommen still. Pia konnte die verstohlenen Blicke, die sie musterten, geradezu körperlich spüren, doch zu sehen war niemand. Wahrscheinlich hatte Nandes recht, dachte sie missmutig. So fremd und bizarr ihr diese Welt vorkommen mochte, es gab vermutlich mehr Parallelen als Unterschiede. Ganz egal, wie viele neugierige Augenpaare sie auch beobachten mochten, niemand würde sich melden, wenn sie nach einem Entlastungszeugen suchten.
»Ich fürchte, wir müssen Ihre Einladung trotzdem ablehnen, Comandante«, sagte Alica. »So gern ich es täte, aber wir haben leider schon andere Termine.«
»Und ich fürchte, ich muss darauf bestehen«, sagte Hernandez. Er schnippte mit den Fingern, und hinter ihm erschienen wie aus dem Nichts drei Gestalten, von denen Pia zwar vollkommen sicher war, ihnen noch nie zuvor im Leben begegnet zu sein, die ihr aber trotzdem auf ziemlich unangenehme Art bekannt vorkamen.
Alle drei waren sehr groß – nicht nur für hiesige Verhältnisse, für die sie wahre Riesen sein mussten, sondern auch nach Pias Maßstäben. Selbst der Kleinste der drei überragte sie um zwei oder drei Zentimeter, der Größte nahezu um Haupteslänge. Alle drei hatten langes, schmutziges Haar und noch längere verfilzte Bärte und trugen zerfetzte Umhänge aus schmutzigem Fell.
»Oh«, murmelte Alica. »Ich wusste doch, dass wir etwas vergessen haben.«
Pia brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Schweigen und versuchte zugleich, die Gesichter der drei Kerle genauer zu erkennen. Unter all den Haaren und dem Schmutz war das gar nicht so einfach, und sie hatte ja auch die Gesichter der drei anderen Kerle niemals deutlich gesehen; jedenfalls nicht deutlich genug, um sie sich einzuprägen. Dennoch war sie sicher, dass es sich nicht um dieselben Männer handelte, die Alica und sie gejagt hatten. Aber sie konnten gut ihre Brüder sein.
Zumindest im Geiste.
Und ihre Umgangsformen waren auch nicht viel besser. Zwar machte keiner der drei irgendwelche Anstalten, sich sofort auf Alica und sie zu stürzen (womit sie eigentlich gerechnet hätte), doch alle drei zogen in einer fast synchronen Bewegung ihre Waffen unter den Mänteln hervor.
»Ähm … Pia?«, fragte Alica unsicher. »Ich will ja nicht penetrant erscheinen, aber sollten wir nicht … von hier verschwinden, zum Beispiel?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Hernandez. »Und bitte, Alica – unsere Zeit wird allmählich knapp. Ihr könnt freiwillig mitkommen oder meine Männer zwingen euch dazu. Entscheide dich. Jetzt.«
»Ihre Männer«, wiederholte sie. »Dann waren es auch Ihre Männer, die uns letzte Woche quer durch Rio gehetzt haben?«
»Letzte Woche?« Hernandez lächelte schmerzlich. »Für mich war es vor zwölf Jahren. Und nein, damals … standen wir noch nicht auf derselben Seite. Das ist … eine etwas komplizierte Geschichte. Aber wir werden noch genug Zeit haben, um sie zu erzählen.« Er machte eine befehlende Geste, und Pia hörte ein Rasseln und Schleifen hinter ihrem Rücken und fragte sich, ob es denn überhaupt lohnte, sich herumzudrehen. Sie tat es trotzdem. Hinter ihnen standen jetzt zwei in schmutzige Fetzen gekleidete Neandertaler, die nur aus Muskeln, scharf geschliffenem Eisen und furchtbar schlechten Zähnen zu bestehen schienen.
»Okay«, seufzte Pia. »Was sollen wir tun? Die Hände heben und euch unauffällig aus dem Stadttor folgen?«
Hernandez gab dem Burschen hinter sich einen knappen Wink, und der Bärtige machte eine unwillige Bewegung mit dem rostigen Schwert, das er unter seinem Mantel hervorgezogen hatte, und knurrte eine Antwort, die Pia nicht verstand. Aber er klang eindeutig wütend.