»Schon gut«, sagte Pia hastig. »Wir kommen mit.«
»Einfach so?«, fragte Alica.
Pia hob unglücklich die Schultern. »Sieht nicht so aus, als hätten wir eine große Wahl, oder? Immerhin versuchen sie nicht, uns gleich an Ort und Stelle umzubringen.« Wahrscheinlich würden sie das später erledigen, irgendwo außerhalb der Stadt und in aller Ruhe. Und ganz langsam.
Der Bärtige ließ ein weiteres unwilliges Grunzen hören und Alica warf ihr einen fast schon flehenden Blick zu. »Du hast nicht zufällig irgendeine geniale Idee? Irgendetwas mit den …Schatten … vielleicht?«
Pia verstand, was sie damit meinte, aber sie konnte nur bedauernd den Kopf schütteln. Auch wenn sie bis jetzt nicht wirklich verstanden hatte, wie es ihr bei ihrem ersten Zusammentreffen mit diesen unheimlichen Kerlen gelungen war, Alica und sich praktisch unsichtbar zu machen, so wusste sie doch trotzdem, dass ihnen dieser Ausweg gerade nicht zur Verfügung stand. Es hatte irgendetwas mit dem Licht zu tun. Der Sonne. Mehr konnte sie im Moment nicht sagen.
»Dann haben wir ein Problem«, seufzte Alica.
Der Bärtige machte eine drohende Bewegung mit dem Schwert, und Pia drehte sich gehorsam um und setzte sich in Bewegung. Hernandez sah sie plötzlich sehr nachdenklich an, und Pia wünschte sich, Alica hätte das mit den Schatten nicht gesagt.
Zumindest auf dem ersten Stück führten die Männer sie nicht in Richtung der Stadtmauer, sondern davon weg, in Richtung des monströsen schwarzen Turms im Zentrum der Stadt.
Nun ja, einen geeigneteren Ort, um sie in aller Ruhe umzubringen, würden sie wohl kaum finden.
Pias Gedanken kreisten immer schneller. Ganz egal, wohin diese Kerle sie auch schleppen wollten: Sie mussten ihnen entkommen, bevor sie ihr Ziel erreichten, wenn nicht etwas ganz und gar Schreckliches geschehen sollte; etwas, bei dem weit mehr auf dem Spiel stand als nur Alicas und ihr Leben.
Sie erreichten das Ende der Straße, bogen ab, und Hernandez blieb so abrupt stehen, dass Pia gegen den Kerl unmittelbar vor ihr prallte. Auch die anderen hielten mitten im Schritt inne, und Pia konnte ihre Überraschung spüren. Irgendetwas lief nicht so, wie sie es geplant hatten. Sie tauschte einen verstohlenen Blick mit Alica, und diese antwortete mit einem kaum angedeuteten Nicken.
Vor ihnen lag eine weitere schmale Straße, von der Hernandez wohl angenommen haben mussten, dass sie ebenso verlassen war wie die, in der sie ihnen aufgelauert hatten.
Sie war es nicht. Ganz im Gegenteil schien sie im ersten Moment von Menschen nur so zu wimmeln, auch wenn dieser Eindruck keinem zweiten Blick standhielt und nur daher kam, dass die Handvoll Gestalten kunterbunt gekleidet waren und aufgeregt durcheinander wuselten. Hätten sie sich nicht genau in die entgegengesetzte Richtung bewegt, Pia hätte geschworen, dass sie wieder auf dem Gauklermarkt angekommen waren. Nur ein paar Schritte entfernt tollten zwei Kinder in bunten Clownskostümen herum und vollführten allerlei Faxen. Hinter ihnen jonglierte ein spindeldürrer Kerl mit gleich vier bunten Holzkeulen, und hinter diesem wiederum ließ eine junge Frau in einem schäbigen Kleid eine Peitsche knallen, zu deren Takt ein schwarzer Hund auf den Hinterpfoten tanzte. Von irgendwoher kam gedämpfte Musik – oder zumindest ein Durcheinander jener misstönenden Laute, die man hier für Musik hielt –, und da waren auch noch andere Gaukler und Schausteller. Zumindest eine von ihnen kannte Pia.
Es war Nani, die Frau des Mannes, der von Flammenhuf getötet worden war.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hernandez misstrauisch.
Pia deutete nur ein Schulterzucken an, warf Alica aber zugleich einen verstohlenen Blick zu. »Hier stimmt etwas nicht«, flüsterte sie. »Sei auf der Hut.«
Alica nickte, und der Bursche unmittelbar neben Pia grunzte ein einzelnes Wort in seiner sonderbaren Sprache und machte eine zusätzliche befehlende Geste. Sein Begleiter griff unter das schmuddelige Fell, das er als Mantel trug, und Pia spürte, wie einer der anderen Kerle so dicht hinter sie trat, dass ihr sein ranziger Gestank in die Nase stieg. Etwas bohrte sich hart zwischen ihre Schulterblätter. Auch Alica fuhr zusammen und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Sei still«, fuhr Hernandez sie an und wandte sich dann an Nani, die neben einem Mädchen mit Hund stand und zum Takt ihrer Peitschenschläge in die Hände klatschte. Pia versuchte irgendwie ihren Blick einzufangen, aber entweder gelang es ihr nicht oder Nani wollte sie nicht sehen. Der Bärtige neben Hernandez raunzte sie rüde in seiner unverständlichen Sprache an und griff erneut unter seinen Mantel, und Nani wandte sich lachend zu ihm um, machte eine besänftigende Geste mit beiden Händen und schien Hernandez dann als Anführer der Gruppe auszumachen. »Mein Herr, ich bitte Euch!«, sagte sie. »Seid fröhlich und lacht ein wenig mit uns! Wir üben für die große Vorstellung heute Abend! Kommt und tanzt ein wenig mit mir!«
Sie griff nach Hernandez’ Arm, wie um ihn tatsächlich an sich zu ziehen und das Tanzbein zu schwingen, und der Kerl neben ihm versetzte ihr einen Stoß mit der flachen Hand vor die Brust, der sie zwei Schritte zurück- und gegen das Mädchen mit der Peitsche stolpern ließ. Nani keuchte vor Schrecken, und das Mädchen verlor mit einem überraschten Laut die Kontrolle über ihre Peitsche, deren geflochtenes Ende plötzlich nicht mehr über dem tanzenden Hund in der Luft knallte, sondern sich um das Handgelenk des Kerls wickelte und ihn mit einem so derben Ruck aus dem Gleichgewicht brachte, dass er auf die Knie fiel. Währenddessen prallte der Hund mit einem erschrockenen Jaulen zurück, fuhr herum und erschrak noch einmal, als er plötzlich einen Berg aus verfilztem Haar und purer Wut über sich aufragen sah, und das so heftig, dass er ganz instinktiv zuschnappte. Aus dem wütenden Knurren des Bärtigen wurde ein keuchender Schmerzensschrei, als sich die Zähne des Tieres so tief in sein Handgelenk gruben, dass hellrotes Blut aus seiner zerrissenen Arterie schoss. Auch der Jongleur verlor nunmehr endgültig die Kontrolle über seine Bewegungen und sein Werkzeug. Zwei der bunt bemalten Kegel klapperten zu Boden, die beiden anderen schienen sich irgendwie selbstständig zu machen. Pia sah, wie der Kerl hinter Alica wie vom Blitz getroffen zusammenbrach, als der abgerundete Kopf des Kegels gegen seine Stirn knallte, der andere sauste so dicht an ihrem Gesicht vorbei, dass sie ein leises Zupfen am Ohrläppchen spürte. Ein gurgelnder Schrei erklang, und der Druck zwischen ihren Schulterblättern verschwand.
Pia vergeudete keine Zeit damit, hinter sich zu sehen und den angerichteten Schaden zu begutachten, sondern verwandte ihre Energie lieber darauf, selbst welchen anzurichten. Mit aller Kraft trat sie dem Kerl rechts von sich in die Kniekehle und stieß ihm die flachen Hände gegen den Rücken, als er erwartungsgemäß nach vorne stolperte. Alica versuchte etwas ganz Ähnliches mit dem letzten Burschen anzustellen, aber es war gar nicht mehr nötig. Auch die beiden Kinder (die gar keine Kinder waren, sondern kleinwüchsige Männer) kamen in all dem Durcheinander aus dem Takt ihrer sorgsam einstudierten Choreografie. Der eine landete mit den Füßen voran in Hernandez’ Bauch, der zweite stellte sich noch viel ungeschickter an, stolperte irgendwie über seine eigenen Füße und krachte mit beiden Knien in Hernandez’ Gesicht, als dieser keuchend auf den Rücken fiel. All das dauerte etwas weniger als eine Sekunde.
»Erhabene! Lauft!«, schrie Nani. »Wir halten sie auf! Bringt Euch in Sicherheit!«
Pia beschloss, sich später zu wundern, griff nach Alicas Arm und rannte los. Der Kerl, den sie zu Boden gestoßen hatte, rappelte sich bereits wieder hoch und versuchte nach Alicas Bein zu greifen, aber Nani war mit einem einzigen Schritt neben ihm und trat ihm so wuchtig vor die Schläfe, dass er benommen zurücksank. Irgendetwas zischte mit einem hässlichen Geräusch an ihnen vorbei, fetzte ein Stück aus ihrem Mantel und grub sich in die Wand vor ihnen, und Pia schlug einen blitzartigen Haken und riskierte nun doch einen Blick über die Schulter.