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Etwas knisterte; ein leises, aber sehr beunruhigendes Geräusch, das Pia im ersten Moment nicht einordnen konnte, das ihr aber nicht gefiel, doch in diesem Moment wurden auch die Stimmen über ihnen lauter, und erneut legte sich ein Schatten über den Brunnenschacht. Panik explodierte in Pias Gedanken und wollte sie aufschreien lassen, aber sie kämpfte sie nicht nur nieder, sondern griff auch ganz instinktiv nach den Schatten und schlang sie wie eine schützende Decke um Alica und sich, und sie hatte es kaum getan, da erschien Hernandez’ Gesicht in der Öffnung über ihnen. Pia spürte, wie ihr Herz für einen Schlag aussetzte und dann rasend schnell und unregelmäßig weiterhämmerte.

Im ersten Moment hätte sie Hernandez kaum wiedererkannt. Sein Gesicht war nicht nur blutüberströmt und begann bereits sichtbar anzuschwellen, sondern war vor Wut auch zu einer Grimasse verzerrt, die es zusätzlich entstellte. Was sie in seinen Augen las, das war pure Mordlust. So viel zu seiner Behauptung, er hätte sich geändert. Sie stimmte. Er war noch viel schlimmer geworden.

Und er starrte sie direkt an.

Allerdings sah er sie nicht.

In seinem Blick lieferten sich Wut und Schmerz ein immer verbisseneres Duell, und er sah ihr so direkt in die Augen, wie es überhaupt nur ging, kaum mehr als eine Armeslänge entfernt, aber in seinen Augen war kein Erkennen, sondern allerhöchstens so etwas wie eine vage Verwirrung. Er sah irgendetwas, begriff Pia. Doch was immer es sein mochte, es waren nicht Alica und sie, und er konnte mit dem Gesehenen nichts anfangen.

Sie spürte, wie Alica neben ihr vor Schrecken erstarrte und für einen Moment sogar das Atmen einstellte. Hernandez runzelte misstrauisch die Stirn und griff nach dem Seil, um sich daran festzuhalten, während er sich noch weiter vorbeugte, um aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen in den Brunnenschacht zu starren.

»Ich weiß, dass du da irgendwo bist«, sagte er. »Versuch ruhig dich zu verstecken, aber auf die Dauer werden dir deine kleinen Tricks nichts nutzen. Ich finde dich schon, verlass dich drauf!«

Das Knistern wiederholte sich und schien diesmal eine Spur lauter zu sein, und Hernandez beugte sich noch weiter vor; für eine einzelne, aber durch und durch schreckliche Sekunde war Pia fest davon überzeugt, dass er nun auch mit der anderen Hand nach dem Seil greifen und zu ihnen herabsteigen würde, um den zugefrorenen Brunnenschacht Zentimeter für Zentimeter abzusuchen.

Vielleicht hätte er es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment einer der bärtigen Krieger neben ihm aufgetaucht.

»Wir müssen gehen, Herr«, grummelte er kaum verständlich. »Jemand hat die Garde alarmiert. Sie sind gleich hier.«

Hernandez funkelte den Mann so wütend an, als gäbe er ihm ganz allein die Schuld an den schlechten Nachrichten, die er überbrachte, richtete sich mit einem Ruck wieder auf und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um das Blut wegzuwischen. »In Ordnung«, grollte er. »Wir verschwinden. Geht der Wache aus dem Weg. Wir können uns einen Kampf im Augenblick nicht leisten. Und sucht diese verdammte Hexe!«

Damit verschwand er.

Pia blieb noch einen Moment vollkommen reglos hocken und wartete darauf, dass die Schritte und hektisch polternden Geräusche verklangen, bevor sie es wagte, sich vorsichtig zu entspannen und dann erleichtert aufzuatmen.

»Das war knapp«, seufzte Alica neben ihr. »Warum hast du das nicht eher gemacht? Dann säßen wir jetzt vielleicht nicht hier drinnen fest.«

»Keine Ahnung«, gestand Pia. Sie wollte mit den Schultern zucken, aber selbst dafür reichte der Platz hier drinnen nicht aus. »Vielleicht funktioniert es im Sonnenlicht nicht.« Die Wahrheit lautete, dass sie schlichtweg gar nicht auf die Idee gekommen war. Alica hatte vollkommen recht. Wäre sie drinnen im Hausflur in die Schatten geflohen, dann säßen sie nicht hier fest.

»Und wie kommen wir jetzt raus?«, fragte Alica.

Statt zu antworten, sah Pia wieder nach oben und rüttelte prüfend an dem Seil, das sie noch immer mit der rechten Hand umklammerte. Es war glitschig von ihrem Blut, und schon die Hand fester darumzuschließen, tat grässlich weh. Außerdem bezweifelte sie, dass ihre Kraft ausreichen würde, nicht nur ihr eigenes Gewicht nach oben zu ziehen, sondern auch noch das Alicas, und noch dazu nur mit einem Arm.

Sie versuchte es trotzdem. Das Ergebnis war eine Explosion aus grellem Schmerz, die ihr die Tränen in die Augen schießen ließ.

»Tja, das dachte ich mir«, sagte Alica. Ihre Stimme klang immer noch flach und ein wenig atemlos, aber sie fand offensichtlich schon wieder zu ihrer gewohnten Form zurück. »Und wie kommen wir jetzt wirklich hier raus, Durchlaucht?«

Bevor Pia antworten konnte, erklang das knisternde Geräusch erneut, und diesmal war es nicht nur merklich lauter, sondern wurde auch von einem sachten Vibrieren unter ihren Füßen begleitet.

»O nein«, murmelte Alica. »Sag mir, dass das nicht das bedeutet, was ich glaube.«

Pia sagte es nicht. Sie kam nicht mehr dazu.

Die Eisdecke, auf der sie standen, war wohl doch nicht ganz so dick gewesen, wie sie geglaubt hatte …

XXVI

»Hier. Trinkt das, Erhabene.« Nani drückte ihr den zweiten Becher mit dampfend heißem Wein in die Hand und unterstrich ihre Worte mit einer auffordernden Geste, von der Pia nicht ganz sicher war, ob sie nur auf eine mütterliche Art besorgt oder schon fast befehlend gemeint war – was vermutlich ohnehin auf dasselbe hinauslief. Sie schloss jedenfalls gehorsam die Finger um den klobigen Becher, genoss für einen Moment die Mischung aus Wärme und prickelndem Schmerz, mit der ihre halb abgestorbenen Nerven wieder zum Leben erwachten, und führte den Becher schließlich an die Lippen, als Nanis Stirnrunzeln eine nun eindeutig missbilligende Komponente bekam.

Pia trank allerdings nur einen winzigen Schluck. Der Wein war zwar so heiß, dass ihre Lippen wehtaten und sich ihre Zunge und ihr Mund allmählich wie gut gekocht anfühlten, aber die Wärme schien irgendwo auf halbem Wege zwischen ihrer Kehle und ihrem Magen zu versickern. Sie war so ausgekühlt wie noch nie zuvor im Leben. Wahrscheinlich konnte sie auch zwanzig Becher davon trinken, ohne dass sie das Gefühl loswurde, nur noch ein mit Haut überzogener Eisklumpen zu sein … aber dafür spürte sie bereits, wie stark das bitter schmeckende Gebräu war. Wenn sie eines im Moment am dringendsten brauchte, dann war es ein klarer Kopf.

»Wie geht es Alica?«, fragte sie, als Nanis Stirnrunzeln noch tiefer wurde.

»Sie schläft«, antwortete Nani. In ihren Augen erschien ganz kurz ein spöttisches Funkeln, und sie sah nun vollends so aus wie eine Mutter, die ihr Kind bei einer gar zu durchsichtigen Flunkerei ertappt, aber beschlossen hatte, darüber hinwegzugehen. »Und wir sollten sie auch schlafen lassen. Im Moment können wir ohnehin nichts tun. Nicht bevor die Sonne untergeht. Die Soldaten überwachen alle Straßen, und sie kontrollieren jeden, der sich den Stadttoren auch nur nähert. Wir müssen bis zum Einbruch der Dunkelheit warten. Vielleicht noch länger.«

Pia lauschte in sich hinein, um herauszufinden, wie lange es bis dahin noch war, aber ihre innere Uhr ließ sie zum ersten Mal im Stich. Vielleicht waren die Zeiger ja eingefroren. »Warum tust du das, Nani?«, fragte sie leise.

»Was?«

»Uns helfen.«

»Hättet Ihr nicht dasselbe getan an meiner Stelle, Erhabene?«, fragte Nani. »Menschen helfen einander, wenn sie in Not geraten.«

»Nicht alle«, antwortete Pia, »und das meine ich nicht.« Sie machte eine Geste, die das winzige Zimmer, Nani und das gesamte Haus einschloss, und nippte noch einmal an ihrem Wein. Diesmal erreichte das Gefühl prickelnder Wärme immerhin die Gegend ihres Solarplexus, bevor es einfach verschwand. »Du riskierst dein Leben für uns. Deins und das deiner Freunde. Und das tun längst nicht alle Menschen füreinander. Schon gar nicht nach dem, was ich dir angetan habe«, fügte sie nach einer winzigen Pause und in verändertem Ton hinzu.