Ein Schatten huschte über Nanis Gesicht und verschwand wieder. »Es war nicht Eure Schuld, Erhabene«, sagte sie. »Wenn überhaupt, dann trifft Keri und mich die Schuld. Wir hätten gleich erkennen müssen, wer Ihr seid.«
»Unsinn«, widersprach Pia. »Wenn ich mich nicht in Dinge eingemischt hätte, die mich nichts angehen, dann wäre gar nichts passiert und dein Mann wäre noch am Leben.« Sie begriff zu spät, dass sie mit diesen Worten das Gegenteil dessen erreichte, was sie wollte. Sie sprach Nani keinen Trost zu, sondern legte den Finger auf eine Wunde, die noch nicht einmal zu heilen begonnen hatte. Diesmal dauerte es länger, bis sich der Schatten wieder von Nanis Gesicht hob.
»Es war trotzdem richtig, Erhabene«, sagte sie. »Flammenhuf hat seine Freiheit zurückgewonnen. Keris Tod ist ein geringer Preis für das, was wir ihm all die Jahre angetan haben.«
»Du hast es nicht gewusst, habe ich recht?«, fragte Pia. »Dass es der wirkliche Flammenhuf ist, meine ich.«
»Niemand wusste es«, bestätigte Nani. »Ich … wusste nicht einmal, dass es ihn wirklich gibt. Wir alle haben geglaubt, es wäre nur eine Legende. Es ist tausend Jahre her, dass jemand einen Pegasus fliegen sah.« Sie machte eine Geste, deren Bedeutung Pia nicht verstand. »Ich habe auch nicht geglaubt, dass es Euch wirklich gibt, Erhabene. Große Dinge geschehen.«
Ja, dachte Pia bitter. Bloß war sie sich nicht sicher, ob es auch gute Dinge waren.
»Du weißt, dass Istvans Soldaten dich töten werden, wenn sie herausfinden, dass du uns geholfen hast«, fuhr sie fort.
Seltsamerweise lächelte Nani, als hätte sie etwas sehr Freundliches zu ihr gesagt. »Mich zu töten wäre wahrscheinlich noch das Harmloseste, was sie mir antun würden«, erwiderte sie. »Aber macht Euch keine Sorgen. Sie werden es nicht herausfinden. Und wenn doch, dann erst, wenn wir WeißWald schon lange verlassen haben. Istvan ist ein mächtiger Mann, aber seine Macht endet an den Toren der Stadt.«
»Du könntest nie mehr zurückkommen«, sagte Pia. »Ich weiß, das ist wahrscheinlich kein besonders großer Verlust, aber du kennst mich nicht. Du weißt nicht einmal, ob ich die bin, für die du mich zu halten scheinst.«
»O doch, Erhabene«, antwortete Nani lächelnd. »Ihr seid die, auf die wir gewartet haben. Ich weiß es, und viele andere wissen es auch.«
»Meinst du nicht, dass ich es dann auch wissen müsste?«, fragte Pia sanft. »Und ich bin ganz und gar nicht sicher.« Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es sein will.
»Auch das hat die Legende vorhergesagt«, antwortete Nani unerschütterlich. »Dass sie selbst die größten Zweifel an ihrer Bestimmung hat, diese am Ende aber dennoch erfüllt.«
»Und was ist diese Bestimmung?«
»Den Menschen dieses Landes das zurückzugeben, was ihnen vor so langer Zeit genommen wurde«, erwiderte Nani. »Ihre Freiheit.«
»Ihre Freiheit?« Pia war ein wenig verwirrt. »Aber ich dachte, ihr hättet den Krieg gegen die Elfen gewonnen?«
»Die Dunkelelfen haben ihn gewonnen«, antwortete Nani. »Wir haben die Herrschaft eines grausamen Volkes gegen die eines anderen eingetauscht. Niemand weiß heute mehr wirklich, was Freiheit bedeutet. Aber es steht geschrieben, dass Prinzessin Gaylen zurückkehrt und unser Volk in die Freiheit führt. Und ich glaube daran.«
Pia setzte zu einer entsprechenden Antwort an, aber dann beließ sie es doch dabei, Nani noch einmal ebenso nachdenklich wie zweifelnd anzublicken und einen weiteren vorsichtigen Schluck Wein zu trinken. Die Wärme drang ein winziges Stückchen weiter in ihren Körper vor, bevor sie ebenfalls zu Eis wurde. Nur zwei oder drei ausgewachsene Vollräusche, dachte sie spöttisch, und sie wäre immerhin wieder aufgetaut.
»Darf ich Euch einen Moment allein lassen, Erhabene?«, fragte Nani. »Es sind noch eine Menge Dinge zu erledigen, bevor wir die Stadt verlassen. Aber ich bin in der Nähe, wenn Ihr irgendetwas benötigt.«
»Natürlich«, antwortete Pia rasch. »Geh ruhig. Und keine Angst, ich laufe bestimmt nicht weg.«
Nani wirkte ein bisschen irritiert, aber sie lächelte pflichtschuldig und wandte sich zum Gehen. Als sie die Tür erreicht hatte, rief Pia sie noch einmal zurück. »Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten, Nani?«
»Was immer Ihr befehlt, Erhabene.«
»Ja, ganz genau das«, antwortete Pia. »Oder eben auch nicht. Würdest du bitte aufhören, mich Erhabene zu nennen?«
»Wenn Ihr es befehlt.«
»Nein«, sagte Pia. »Ich habe dir nichts zu befehlen – nicht einmal wenn ich die sein sollte, für die du mich hältst. Ich bitte dich darum.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Nani. Sie ließ wenigstens die direkte Anrede weg, aber Pia spürte, wie schwer es ihr fiel. Nach Lasar war es das zweite Mal, dass sie diese sonderbare Reaktion erlebte, und sie beschloss, das Thema nicht noch einmal anzusprechen, bevor sie nicht eine Menge mehr über die Leute hier und ihre komplizierten Sitten und Gebräuche gelernt hatte.
Nani wartete ab, ob sie noch weitere Befehle hatte, erst dann ging sie endgültig. Pia wickelte sich enger in die gleich drei Lagen warmer Decken, die Nani ihr gegeben hatte, schloss die Augen und schmiegte die Finger so fest um den Becher, wie sie es gerade noch wagte, ohne ihn zu zerbrechen. Der Wein war noch immer so heiß, dass er aus dem Becher dampfte, und sie sog gierig jedes bisschen Wärme mit den Fingern auf, das durch den dicken Ton drang. Außerdem begann sie den Alkohol zu spüren, obwohl sie nur einen einzigen Becher getrunken und an diesem zweiten bloß genippt hatte. Aber das war ihr mit einem Mal egal. Sie hatte niemals viel davon gehalten, sich zu betrinken, doch jetzt kam ihr der Gedanke durchaus verlockend vor. Warum nicht einfach für eine kleine Weile alles hinter sich lassen und in einen tröstenden Rausch flüchten?
Statt diesem – durchaus verlockenden – Gedanken nachzugeben, nahm sie nur noch einen letzten winzigen Schluck, stellte den Becher dann auf den Tisch und schob ihn absichtlich gerade weit genug von sich fort, dass sie ihn nicht wieder erreichen konnte, ohne sich vorzubeugen, dann wickelte sie sich noch enger in ihre Decken und warf dem prasselnden Kaminfeuer einen sehnsüchtigen Blick zu. Sie war schon so nahe an die Flammen herangerückt wie überhaupt möglich, ohne ihre Decken gleich mit in Brand zu setzen, und es war im Zimmer auch nicht zu kalt; ganz im Gegenteil. Pia bezweifelte, dass in dem kleinen Kamin jemals ein größeres Feuer gelodert hatte. Trotzdem fror sie immer noch so erbärmlich, dass sie mit den Zähnen zu klappern begann, sobald ihre Konzentration ein wenig nachließ. Bisher hatte sie es nicht gewagt, sich diesem Gedanken zu stellen, aber nun wurde ihr klar, dass sie nur sehr knapp dem Tod entronnen war. Wären Nani und ihre Freunde auch nur ein paar Augenblicke später aufgetaucht, um Alica und sie aus dem Brunnen zu ziehen …
Pia spürte eine wohlige Mattigkeit, als die Wärme und das Gefühl der Sicherheit allmählich doch ihre Wirkung zu entfalten begannen. Sie kämpfte nicht dagegen an, sondern gestattete ihren Gedanken ganz bewusst, ein wenig abzuschweifen. Vermutlich würde sie jede Minute, die sie jetzt hier saß und Kraft tankte, später noch sehr dringend brauchen.
Ein gedämpftes Poltern drang durch die geschlossene Tür und ließ sie aufblicken. Ihr Herz schlug plötzlich schneller, und sie konnte das Adrenalin spüren, das in ihren Kreislauf schoss. Aber das Poltern wiederholte sich nicht. Alles blieb still.
Pia entspannte sich wieder und schüttelte den Kopf über ihre eigene Nervosität. Sie war völlig grundlos. Nani und ihre Freunde passten gut auf sie auf, das bewies allein die Tatsache, dass Alica und sie hier waren. Sie hatten weit mehr getan, als sie aus dem Wasser zu ziehen. Zwar erinnerte sie sich nicht mehr genau, wie sie hierhergekommen waren (oder wo dieses hier war), sondern hatte nur ein wildes Durcheinander aus Bildern, Geräuschen und – ausnahmslos kalten – Erinnerungsfetzen im Kopf. Aber da waren Schreie gewesen, sie erinnerte sich an Uniformen und Waffen und daran, gerannt zu sein, und sie glaubte auch noch die Geräusche eines Kampfes zu hören, war sich aber nicht ganz sicher.