Der Gedanke führte zu einem anderen, nämlich zu Brack und dem Weißen Eber, und Pia registrierte mit einem Gefühl leisen Erstaunens, dass sie die Vorstellung, weder ihren schmierigen Wohltäter noch den Weißen Eber jemals wiederzusehen, beinahe ein bisschen traurig stimmte. Immerhin war die heruntergekommene Kaschemme in den letzten beiden Wochen für Alica und sie das gewesen, was einem Zuhause noch am nächsten kam.
Pia dachte mit einem sachten Anflug von schlechtem Gewissen an Alica, die im Nebenzimmer im Bett lag und schlief. Sie war irgendwo auf halbem Wege zusammengebrochen, sodass Nanis Freunde sie hatten tragen müssen. Angeblich ging es ihr gut, und alles, was sie brauchte, waren ein bisschen Wärme und zwei oder drei Stunden Schlaf; jedenfalls hatte Nani das behauptet. Pia glaubte ihr, aber sie hätte trotzdem zu ihr gehen und sich selbst davon überzeugen sollen, wie es um sie stand. Doch das hätte bedeutet, unter ihren warmen Decken hervorzukriechen und ihren Platz am noch wärmeren Feuer aufzugeben, und dazu war sie noch nicht bereit. Später vielleicht, wenn ihre Muskeln und zumindest ein Teil ihrer inneren Organe wieder aufgetaut waren; in ungefähr einer Million Jahren.
Sie musste wohl doch eingeschlafen sein, denn als Nani sie irgendwann an der Schulter berührte und schüchtern ihren Namen flüsterte (zusammen mit etwas, das sich verdächtig nach dem Wort Erhabene anhörte), war das Feuer sichtbar heruntergebrannt und es war auch dunkler geworden.
Pia blinzelte den Schlaf weg, der ihre Lider verkleben wollte, setzte sich mit einem Ruck auf und sah Nani so schuldbewusst an, dass die alte Frau unwillkürlich lächeln musste. »Ja?«
»Es ist alles in Ordnung, Erhabene«, sagte Nani und hob beruhigend die Hand. »Kein Grund zur Sorge.«
»Sehe ich aus, als würde ich mir Sorgen machen?«, nuschelte Pia verschlafen.
Nani war diplomatisch genug, nicht darauf zu antworten, sondern trat nur einen Schritt zurück und deutete auf die Tür. »Die Sonne geht in einer Stunde unter, und wir sollten uns allmählich fertig machen.«
»Ja, warum eigentlich nicht«, sagte Pia gähnend. »Wäre doch mal eine Abwechslung, oder nicht? Normalerweise versuchen das immer andere.«
Nani sah sie verständnislos an. »Erhabene?«
»Schon gut.« Pia gähnte noch einmal, stand auf und reckte sich ausgiebig und vollkommen ungeniert, während sie ohne die Spur eines schlechten Gewissens zusah, wie sich Nani nach den Decken bückte, die heruntergefallen waren, um sie ebenso schnell wie geschickt zusammenzufalten.
»Wie geht es Alica?«
»Sie ist wach und wohlauf, Er… Herrin«, antwortete Nani. »Allerdings scheint sie ein wenig verärgert zu sein – jedenfalls nehme ich das an. Leider verstehe ich nicht, was sie sagt.«
»Mach dir nichts draus«, antwortete Pia lächelnd. »Wahrscheinlich ist es besser so. Glaub mir, du würdest sie auch oft genug nicht verstehen, wenn du sie verstehen würdest.«
Im Moment jedenfalls verstand Nani rein gar nichts mehr, wie Pia an ihrem hilflosen Blick erkannte, aber sie machte auch keinen Versuch, irgendetwas zu erklären, sondern wies nur auffordernd zur Tür. Nani faltete die Decken bedächtig fertig, rollte sie dann zu einer Wurst zusammen und klemmte sie sich unter den linken Arm, bevor sie sich herumdrehte und vorausging. Der Anblick erfüllte Pia mit deutlich mehr Unbehagen, als sie zugeben wollte. Nani kam ihr nicht vor wie eine Ordnungsfanatikern, die die Decken ordentlich zusammengelegt hier zurücklassen wollte. Schon eher wie jemand, der sie mitnehmen wollte, weil sie da, wo sie hingingen, warme Decken brauchen würden. Pia dachte an knirschenden Schnee und eisigen Wind und bekam schon bei der bloßen Vorstellung eine Gänsehaut.
Draußen auf dem Flur begriff sie, was Nani gemeint hatte. Der Korridor war so niedrig wie alle Räume hier, aber erstaunlich lang und hatte ein gutes halbes Dutzend Türen. Durch eine davon drangen polternde Geräusche und eine gedämpfte, aber unverkennbar ärgerliche Stimme.
Nani maß sie mit einem irgendwie verlegenen Blick und schien auch nicht besonders unglücklich darüber zu sein, dass Pia ihre Schritte beschleunigte und als Erste die Hand nach der plump aus Holz geschnitzten Klinke ausstreckte.
Alica war nicht nur ein bisschen verärgert, wie Nani es ausgedrückt hatte, sie stapfte im Zimmer auf und ab, schimpfte wie ein Rohrspatz und überbrückte die Zeit, die sie brauchte, um zwischendurch Luft zu holen, damit, die Einrichtung zu zerlegen. Einen der Hocker hatte es schon erwischt – er hatte nur noch ein Bein und lag in der von den anderen am weitesten entfernten Ecke –, und gerade als Pia die Tür aufmachte, war der niedrige Tisch an der Reihe. Alica versetzte ihm einen Tritt, der ihn zwar nicht zertrümmerte, ihn aber ein gutes Stück über den Boden schlittern und hörbar ächzen ließ.
»Die Möbel können nichts dafür«, sagte Pia.
Alica stellte ihre Versuche, die komplette Einrichtung zu Sägespänen zu verarbeiten, wenigstens für einen Moment ein und fuhr kampflustig herum. Dem zornigen Aufblitzen in ihren Augen nach zu schließen, hatte sie gerade diejenige entdeckt, die etwas dafürkonnte; wofür auch immer.
»Oh, Majestät lassen sich auch einmal blicken«, giftete sie. »Muss ich mich jetzt geehrt fühlen oder brauchst du irgendetwas? Wenn du vorhast schwimmen zu gehen, muss ich leider dankend ablehnen. Ich hatte genug Wasser für dieses Jahr.«
Pia sagte vorsichtshalber gar nichts dazu, sondern bedeutete Nani nur mit einem raschen Blick, dass alles in Ordnung war, und zog die Tür hinter sich zu, bevor sie sich dagegen lehnte und demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte. »Was ist los?«, fragte sie.
»Was los ist?« Alica funkelte sie noch wütender an und deutete mit beiden Händen an sich herab. »Schau mich an, und dann stell die Frage noch einmal! Und deine neue Busenfreundin glaubt anscheinend auch noch allen Ernstes, ich würde in diesem Zustand auf die Straße hinausgehen!«
Pia tat, worum Alica sie gebeten hatte, und musste sich ziemlich beherrschen, um ein Grinsen zu unterdrücken. Alica trug keinen der formlosen Säcke, die anscheinend den letzten Schrei der hiesigen Mode darstellten, sondern ein … Etwas, für das ihr trotz angestrengten Überlegens keine passende Bezeichnung einfiel. Außer, dass es scheußlich und augenscheinlich aus einem besonders groben Schmirgelpapier von vollkommen undefinierbarer Farbe geschneidert war und aussah, als wöge es ungefähr eine halbe Tonne. Ganz nebenbei war es ihr um mindestens drei Nummern zu klein, sodass es ihr fast die Luft abschnürte.
Es sah wirklich ein bisschen grotesk aus, aber zugleich konnte sich Pia auch nicht vorstellen, dass diese geschmackliche Entgleisung der einzige Grund für Alicas brodelnden Zorn war.
»Ich finde, es steht dir gut«, sagte sie feixend.
»Na, dann warte mal ab, bis du das Stück Haute Couture siehst, das sie für dich herausgesucht hat«, giftete Alica. »Dagegen ist dieser Fetzen hier geradezu sexy. Und das Ding stinkt, als wäre jemand darin gestorben!«
Was vermutlich der Fall war, dachte Pia, und vielleicht mehr als nur einer. »Aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem du dich so aufregst«, vermutete sie.
»Hätte ich denn sonst noch einen?«, fragte Alica spitz. »Ich meine, außer dass ich fast von einem durchgehenden Stier zu Tode getrampelt worden wäre, jemand versucht hat, mir die Kehle durchzuschneiden, ich wieder mal um mein Leben rennen musste, in einen Brunnen gefallen bin und anschließend beinahe ertrunken und erfroren wäre, und meine angeblich beste Freundin es nicht einmal für nötig befunden hat, sich zu erkundigen, wie es mir geht? Habe ich was vergessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sonst war nichts. Die Tage hier werden auch immer langweiliger, findest du nicht?«