Pia versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wann sie Alica als ihre beste Freundin bezeichnet hatte, aber vermutlich war jetzt nicht der ideale Moment, um sie auf dieses Missverständnis hinzuweisen.
»Das mit dem Brunnen tut mir leid«, sagte sie. »Aber es war der einzige Weg.«
»Mich auf Eis zu legen?«
»In die Schatten zu fliehen«, antwortete sie.
»In die Schatten zu fliehen«, wiederholte Alica. »Kannst du dich noch ein bisschen verquaster ausdrücken?«
»Wenn ich mir ein bisschen Mühe gebe, bestimmt«, antwortete Pia. Zugleich wurde ihr klar, dass sie die Wahrheit gesagt hatte: Etwas in ihr hatte ganz instinktiv den einzigen Ort erkannt, an dem sie auf ihre Zauberkräfte zurückgreifen und in die Welt der Schatten fliehen konnte.
»Und was sonst noch?«, fragte sie.
»Findest du nicht, dass das für einen einzelnen Vormittag reicht?« Alica bückte sich, hob ein Bündel aus nassem Stoff auf und klatschte es auf den Tisch. Pia erkannte es erst auf den zweiten Blick als das Kleid, das sie bei ihrem Sturz in den Brunnen getragen hatte. Missmutig wickelte Alica es auseinander, und ihre drei größten Heiligtümer kamen zum Vorschein: ihr silbernes Zippo, das winzige Schminktäschchen und die hoffnungslos aufgeweichte Zigarettenpackung mit ihrer letzten Marlboro.
»Das Zippo kann man wahrscheinlich retten«, sagte sie unbeholfen. »Wenn du es gründlich trocknen lässt …«
»Und ich irgendwo einen Laden finde, der Feuerzeugbenzin verkauft.«
Pia überging diesen Einwand vorsichtshalber, gerade weil er berechtigt war. »Aber das ist doch nicht alles«, sagte sie. »Das da ist ärgerlich, okay, aber deswegen würdest du nicht so ausflippen.
»Wusstest du, dass deine neue Freundin vorhat, die Stadt zu verlassen – zusammen mit uns?«
»Sie hat es mir gerade gesagt«, antwortete Pia; was vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprach, ihr im Moment aber einfach klüger erschien.
»Und du weißt auch, wofür sie mich hält?«
»Nein«, antwortete Pia.
»Sie glaubt, ich wäre deine Sklavin!«, sagte Alica aufgebracht. »Und sie hat ziemlich wenig Zweifel daran gelassen, dass sie von mir erwartet, mich auch so zu benehmen! Und jetzt frage ich mich, wer sie wohl auf diese seltsame Idee gebracht hat!«
»Ich jedenfalls nicht«, sagte Pia. »Woher weißt du das überhaupt? Verstehst du, was sie sagt?«
»Manche Dinge muss man nicht verstehen, um sie zu verstehen«, fauchte Alica. »Diese Nanunana war ziemlich deutlich.«
»Naninaranat«, verbesserte sie Pia und lächelte flüchtig. »Und sie hat es wahrscheinlich nicht so gemeint. Und wenn doch, dann habe ich es jedenfalls nicht so gesagt.« Sie schrak zusammen, als es hinter ihr an der Tür klopfte, und machte auf.
Es war Nani, die ein offensichtlich sehr schweres Bündel auf beiden Armen trug und ganz unverhohlen versuchte, einen neugierigen Blick an ihr vorbeizumogeln, während sie ihr das Bündel gleichzeitig entgegenstreckte. Pia machte ebenso unverhohlen einen halben Schritt zur Seite und versperrte ihr die Sicht.
»Eure Kleider, Erhabene«, sagte Nani. »Wir haben noch ein wenig Zeit, aber vielleicht zieht Ihr sie schon einmal an. Soll ich Euch dabei behilflich sein, oder möchtet Ihr, dass Eure Sklavin das tut?«
»Das schaffe ich so grade noch allein«, antwortete Pia, nahm das Bündel entgegen und wäre unter seinem Gewicht fast in die Knie gegangen. Kleider? Hatte sie sie aus Beton gegossen?
»Ganz wie Ihr befehlt, Erhabene.« Nani wollte sich abwenden, aber Pia rief sie mit einer Kopfbewegung noch einmal zurück.
»Noch etwas, Nani.«
»Erhabene?«
»Alica ist meine Freundin. Nicht meine Sklavin, nicht meine Dienerin und nicht meine Zofe, sondern einfach nur meine Freundin. Und ich möchte, dass du sie so behandelst.«
»Ganz wie Ihr befehlt, Erhabene«, antwortete Nani. Sie senkte demütig das Haupt und entfernte sich rückwärtsgehend, und Pia zog die Tür ungeschickt mit dem Fuß zu und drehte sich wieder zu Alica um.
»Zufrieden?«
»Ihr lernt schnell, Prinzessin«, sagte Alica.
Pia musste sich beherrschen, um sie nicht anzufahren. Statt überhaupt zu antworten, ging sie zum Tisch, lud das Bündel darauf ab und registrierte mit grimmiger Schadenfreude, wie es die ohnehin traurigen Überreste von Alicas Zigarettenpackung endgültig zermanschte.
Noch immer wortlos wickelte sie das Bündel aus und begriff im nächsten Moment, was Alica gerade gemeint hatte.
Das Kleid war mindestens so hässlich wie das, das Alica trug, genau wie dieses um mehrere Nummern zu klein und stank tatsächlich atemberaubend. Und es wog mindestens eine Tonne.
Sie brauchte gute zehn Minuten, um sich hineinzuzwängen, und ohne Alicas Hilfe wäre es ihr wahrscheinlich gar nicht gelungen. Und sie war nicht sicher, wie lange sie es aushalten würde, dieses schwere, stinkende und kratzende Monstrum zu tragen.
Ein Gutes hatte diese masochistische Verkleidung immerhin. Als sie fertig war und sich wieder zu Alica herumdrehte, war der Ausdruck von Zorn auf deren Gesicht dem blanker Schadenfreude gewichen.
»Na, habe ich zu viel versprochen?«, fragte sie feixend.
»Nein«, antwortete Pia. »Das ist … ähm … nun ja, gewöhnungsbedürftig. Aber immerhin warm«, fügte sie nach einem Moment hinzu … was durchaus der Wahrheit entsprach. So unangenehm sich der sonderbare Stoff auf der Haut anfühlte, er war unglaublich warm. Obwohl sie das Kleid erst seit Augenblicken trug, spürte sie bereits, wie perfekt es ihre Körperwärme zurückhielt.
»Und das gefällt dir?« Alica machte eine Kopfbewegung auf ihr Kleid. »Das Ding sieht jedenfalls warm genug aus, um damit zum Nordpol zu marschieren.«
Pia schwieg.
»He, was ich gerade gesagt habe, das … tut mir leid«, sagte Alica unbehaglich. »Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir los war. Es war alles einfach zu viel.«
Pia lächelte zwar verständnisvoll, aber tief unter diesem Lächeln erschrak sie. Alicas Worte klangen überzeugend. Früher oder später wäre wohl jeder unter der Belastung zusammengebrochen, unter der sie seit zwei Wochen standen. Aber vielleicht gab es noch einen anderen Grund, den sie nicht einmal selbst kannte.
Sie versuchte sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, was seit ihrer Ankunft in dieser sonderbaren Stadt alles geschehen war. Sie war es gewesen, der so ziemlich jedermanns Aufmerksamkeit hier gegolten hatte. Sie wurde von vielen für so etwas wie die Reinkarnation einer Göttin gehalten, und sie wurde ob ihrer Schönheit (oder zumindest ihrer Haare) bewundert. Die Gäste, die allabendlich den Weißen Eber stürmten, kamen ihretwegen.
Konnte es sein, dass Alica … eifersüchtig war?
Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie hatte schon immer einen fatalen Hang dazu gehabt, Dinge unnötig zu verkomplizieren, und sie sollte sich hüten, das ausgerechnet jetzt zu tun. Wahrscheinlich war Alica einfach nur mies drauf, basta.
Sie fuhr noch einmal mit den flachen Händen über den Stoff ihres Kleides, das ihr kaum bis zur Mitte der Schienbeine reichte, und hoffte, irgendeine Veränderung zu spüren; was auch der Fall war. Sie hatte jetzt nicht mehr das Gefühl, dass es aus Beton gegossen worden war. Schon eher aus Stacheldraht gestrickt.
»Immerhin steht der Sommer vor der Tür«, sagte sie hilflos.
»Sommer?«
Warum sprach Alica das Wort eigentlich so aus, wie sie einen schlechten Scherz betont hätte?
»Also ich kenne da ein paar Gegenden auf diesem lauschigen Planeten – oder wenigstens auf dem, von dem wir kommen –, wo dieses Wort bedeutet, dass draußen nur behagliche dreißig Grad herrschen, statt der üblichen siebzig … unter null.«
Jetzt war es Pia, die nur mit einem unbehaglichen Brummen antwortete.
»Also gut«, sagte Alica. »Frieden?«
Pia nickte nur.
»Jetzt wird es anscheinend ernst, wie?«, fuhr Alica fort, nachdem sie einige weitere Augenblicke lang vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte. »Wir können wohl kaum zurück zu Brack und so tun, als wäre gar nichts passiert.«