»Kaum.«
»Vielleicht hätten wir doch mit dem Comandante gehen sollen«, sinnierte Alica. »Dann wüssten wir wenigstens, woran wir sind.«
»Das meinst du nicht ernst.«
»Nein«, gestand Alica. »Ach verdammt, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich meine! Ich weiß ja nicht einmal mehr genau, wer ich bin … oder du!«
»Dann geht es dir nicht besser als mir«, sagte Pia. »Aber eins weiß ich genau: Wir können nicht hierbleiben.«
»Ja, so weit waren wir schon ein paarmal«, sagte Alica säuerlich.
Pia lachte, eine Antwort, die Alica im ersten Moment völlig zu überraschen schien, denn sie sah sie verständnislos und mit offenem Mund an … aber dann stimmte sie darin ein, und es spielte überhaupt keine Rolle, dass dieses Lachen nicht nur vollkommen grundlos war, sondern auch einen leisen Unterton von Hysterie hatte. Es erleichterte einfach, und das war in diesem Moment alles, was zählte.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss sie in die Wirklichkeit zurück. Pia schenkte Alica ein abschließendes verschwörerisches Grinsen, machte auf und sah erwartungsgemäß auf Nanis zerfurchtes Gesicht hinab.
»Seid Ihr so weit, Er-«
Pia hob unwillig die Hand, und Nani verbesserte sich hastig.
»Herrin? Es wird allmählich Zeit.«
Pia wandte überrascht den Kopf. Das Zimmer hatte nur ein einziges, schmales Fenster, durch das nicht sonderlich viel Licht hereindrang; aber es war Tageslicht, und als sie in sich hinein lauschte, stellte sie fest, dass ihre innere Uhr wieder aufgetaut war und funktionierte. Bis Sonnenuntergang war noch eine gute Stunde Zeit.
Nani deutete ihre Bewegung richtig. »Die Soldaten durchsuchen die ganze Stadt«, sagte sie. »Sie werden bald hier sein. Aber ich kenne einen Ort, an dem wir sicher sind, wenigstens bis Sonnenuntergang. Es ist natürlich Eure Entscheidung«, fügte sie in demütigem Ton und mit einem noch demütigerem Senken des Hauptes hinzu.
»Eigentlich nicht«, sagte Pia.
»Herrin?«, fragte Nani verwirrt. Sie sah sie nicht an.
»Du kennst dich hier besser aus als ich«, sagte Pia. »Wenn du der Meinung bist, dass es besser wäre, von hier zu verschwinden, wie könnte ich dann etwas anderes sagen?«
»Herrin?«, fragte Nani verstört.
»Ich bin nicht deine Herrin«, antwortete Pia scharf. »Mein Name ist …« Sie wollte Pia sagen, aber natürlich kam das Wort Gaylen über ihre Lippen, was sie nur noch wütender machte. »– und ich bin dir sehr dankbar für das, was du für uns getan hast! Aber solange wir nicht wirklich wissen, ob ich die bin, für die du mich hältst, möchte ich nicht, dass du mich so behandelst! Ich bin keine … Göttin oder so was, und ich bin auch keine wiedergeborene Elfenprinzessin! Da, wo ich herkomme, bin ich nicht nur nichts Außergewöhnliches, sondern eher das Gegenteil!«
»Herrin?«, flüsterte Nani.
»Ich bin eine ganz gewöhnliche Diebin!«, sagte Pia. »Ich bin weniger als die meisten deiner Freunde! Was muss ich noch tun, damit du aufhörst, vor mir im Staub zu kriechen und mir die Füße zu lecken?«
»Es ihr befehlen?«, schlug Alica vor.
»Ganz wie Ihr es wünscht, Herr… Gaylen«, sagte Nani mit tonloser Stimme. Sie zwang sich, Pia direkt anzusehen, aber ihr Blick ging irgendwie direkt durch sie hindurch.
»Eins muss man dir lassen«, sagte Alica spöttisch. »Du weißt, wie man sich Freunde macht.«
»Und wir müssen vorher noch einmal zum Weißen Eber«, fuhr Pia fort, ohne Alicas Worte auch nur zu beachten. Sie hatte keine Lust, sich schon wieder mit ihr zu streiten, und das würden sie, wenn sie ihr so antwortete, wie ihr zumute war.
»Das ist unmöglich, Herrin!«, sagte Nani erschrocken. »Istvans Soldaten sind dort! Ihr würdet festgenommen, wenn ihr auch nur in die Nähe ginget!«
»Ich brauche meine Waffe«, beharrte sie. »Jetzt vielleicht mehr denn je. Und ihr seid möglicherweise auch froh, wenn ich sie dabeihabe.«
»Ihr könnt nicht dorthin«, beharrte Nani. »Aber ich kann jemanden schicken, der Euch das Gewünschte holt. Nach uns suchen sie nicht. Wenn Ihr mir beschreibt, wonach er suchen soll, schicke ich meinen Sohn.«
»Meine Pistole«, antwortete Pia. »Sie liegt unter meinem Kopfkissen.« Nanis Blick wurde nur noch verständnisloser, und Pia rief sich in Erinnerung zurück, dass sie weder wusste, was eine Pistole war, noch jemals dieses Wort gehört hatte. Sie beschrieb Nani Aussehen und Größe der Waffe und schärfte ihr noch einmal ein, nichts anderes anzurühren oder mitzunehmen, und Nani hörte schweigend und sehr konzentriert zu und entfernte sich dann.
»Du hast nicht zufällig eine Kleinigkeit vergessen?«, fragte Alica. Sie deutete mit den Händen einen Abstand von einem guten Meter an, und nach ein paar Sekunden begriff Pia sogar, was sie damit meinte. Nein, sie hatte Eiranns Zorn nicht vergessen. So kostbar die uralte Waffe auch sein mochte, war sie tief in sich doch froh, sie nicht mehr in ihrer Nähe zu wissen.
»Nein«, sagte sie nur.
Alica wirkte zwar ein bisschen irritiert, ging aber nicht weiter auf das Thema ein und verzog nur abschätzig die Lippen. »Hat wahrscheinlich sowieso keinen Sinn«, sagte sie.
»Was?«
»Wenn ich Istvan wäre, dann hätte ich als Allererstes unser Zimmer durchsucht«, antwortete Alica. »Wahrscheinlich hat er das Schwert längst … und deine Pistole auch.« Ihr Grinsen wurde plötzlich noch breiter. »Wer weiß? Vielleicht haben wir ja Glück, und er schießt sich selbst in den Fuß.«
XXVII
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Alica. »Warum gehen wir nicht gleich zur Festung und suchen uns ein gemütliches Verlies? Das Ergebnis ist dasselbe, und wir sparen uns eine Menge Rennerei.«
Sie hatten gewartet, bis die Sonne untergegangen war, und sich dann auf den Weg zur Stadtmauer gemacht; eine Strecke von kaum einem Kilometer, für die sie trotzdem fast eine Stunde brauchten. Der sichere Ort, von dem Nani gesprochen hatte, schienen die Straßen WeißWalds zu sein. Die Stadt hatte sich verändert. Wurde es schon an einem normalen Tag schlagartig dunkel und still, kaum dass die Dämmerung vorüber war, so wirkten die schlammigen Straßen jetzt vollkommen ausgestorben. In keinem einzigen Haus, an dem sie vorbeikamen, hatte Licht gebrannt oder war auch nur der geringste Laut zu hören gewesen. Die Stadt schien vielleicht noch nicht ganz ausgestorben, aber sie hielt eindeutig den Atem an. Die einzigen Menschen, denen sie überhaupt begegneten, waren die Soldaten der Stadtwache, die in den verlassenen Straßen patrouillierten, das aber in rauen Mengen. Pia hörte nach dem fünften oder sechsten Mal auf zu zählen, wie oft Nani sie hastig in eine Seitenstraße oder einen finsteren Hinterhof scheuchte, wo sie mit angehaltenem Atem warteten, bis die Patrouille vorübergegangen war. Es musste ein Dutzend Mal gewesen sein, mindestens, und ein- oder zweimal waren sie einer Entdeckung nur um Haaresbreite entgangen.
Wie es aussah, war ihre Glückssträhne jetzt zu Ende. Sie befanden sich wieder da, wo es angefangen hatte. Vor ihnen lag der Rindermarkt, der im Laufe des Tages endgültig aufgebaut worden war. Wo sich noch am Morgen ein buntes Durcheinander aus Zelten, hastig zusammengeschusterten Verkaufsständen und vor Waren überquellende Wagen erhoben hatte, da reihten sich jetzt zahlreiche Gatter und Koppeln aneinander, in denen sich Pferde, Schweine, Ochsen und eine Unzahl jener sonderbar kleinen Rinder drängten; und noch etliches andere Getier, das Pia über die große Entfernung hinweg nicht genau erkennen konnte.
Bei dem einen oder anderen war das vielleicht auch ganz gut so. Zahllose Fackeln tauchten den asymmetrischen Platz in flackernde rote Helligkeit, und die Menschen und Geräusche, die sie auf dem Weg hierher vermisst hatten, wehten ihnen nun im Übermaß entgegen. Pia schätzte, dass sich zwischen den Gattern gute fünfzig oder sechzig Männer bewegten.
Was fehlte, waren die Kunden. Sie waren zu weit entfernt und die Sicht war trotz der zahlreichen brennenden Fackeln zu schlecht, um Einzelheiten zu erkennen, aber trotz allem herrschte zu wenig Bewegung. Hier und da standen ein paar Männer beieinander und redeten, und einmal trug der Wind ein helles Lachen an Pias Ohr und verschlang es gleich wieder, dennoch war es viel zu still. Nirgends wurde gehandelt oder gefeilscht, niemand kam, um Tiere abzuholen oder Waren zu tauschen.