»Die Geschäfte scheinen nicht gut zu gehen«, murmelte sie.
»Sie gehen überhaupt nicht, wie es aussieht«, sagte Nani nachdenklich. »Ich sehe niemanden aus der Stadt. Das ist seltsam.«
Pia dachte an die unheimliche Stille in den wie ausgestorben daliegenden Straßen und an die große Zahl patrouillierender Soldaten, der sie begegnet waren.
»Vielleicht hat Istvan eine Ausgangssperre verhängt, solange seine Männer uns noch nicht gefunden haben«, dachte Alica laut nach. »Das würde zu ihm passen.« Sie seufzte tief. »Und uns macht es in der Stadt auch nicht unbedingt beliebter.«
»Keine Sorge«, antwortete Pia. »Das gibt sich, sobald wir die Stadt verlassen haben.«
»Ja, sicher«, spöttelte Alica. »Überhaupt kein Problem, nicht wahr? Wir müssen einfach nur durch das Tor spazieren. So perfekt, wie wir verkleidet sind, erkennt uns ganz bestimmt niemand.«
Pia sagte nichts dazu, sondern sah noch einmal zur Stadtmauer hoch und zu den Männern, die dort patrouillierten. Heute Morgen hatten dort zwei gelangweilte Männer gestanden, die wahrscheinlich nur die Kälte daran gehindert hatte, im Gehen einzuschlafen. Jezt sah sie allein auf den ersten Blick beinahe ein Dutzend Männer, die ganz und gar nicht gelangweilt oder müde wirkten, sondern den Viehmarkt und alles, was sich darauf bewegte, sehr aufmerksam beobachteten. Hinter jedem einzelnen Fenster des wuchtigen Torturmes brannte Licht, und manchmal bewegten sich Schatten darin. Sie konnte von hier aus nicht erkennen, ob das massive Tor am anderen Ende des Gewölbegangs offen oder geschlossen war, aber selbst wenn Istvan darauf verzichtet hatte, die Stadt komplett dichtzumachen, so wurde es ganz bestimmt streng bewacht, und jeder, der herein- oder hinauswollte, aufs Schärfste kontrolliert. Alica hatte auch in diesem Punkt recht: Die Kleider, die Nani ihnen gegeben hatte, waren zwar warm und hatten sich nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung sogar als überraschend bequem erwiesen, aber sie sahen darin absolut lächerlich aus. Ihre Verkleidung war keine, sondern schon eher das genaue Gegenteil.
»Meine Freunde werden für Ablenkung sorgen«, sagte Nani.
Irgendwie, dachte Pia, hörte es sich an wie etwas, an das sie gerne glauben würde, ohne dass es ihr wirklich gelang.
»Sie werden kommen«, fuhr Nani knapp fort. Pia konnte nicht sagen, ob sie nur ein wenig unwillig oder besorgt klang, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht genau wissen und übersetzte stattdessen für Alica.
»Ja, fragt sich nur, wann«, nörgelte Alica. »Warum nehmen wir nicht ein anderes Tor? Vielleicht eines, das nicht von einer ganzen Armee bewacht wird?«
Pia gab ihre Frage in leicht abgemilderter Form weiter, und Nani schüttelte heftig den Kopf. »Das geht nicht«, sagte sie. »Alle anderen Tore sind geschlossen. Das hier ist nur offen geblieben, weil noch immer Karawanen eintreffen und der Großteil der Herden draußen vor der Stadt lagert. Istvans Soldaten kontrollieren jeden, der ein- und ausgeht. Aber wir haben einen Plan.«
Alica blickte fragend, doch diesmal verzichtete Pia darauf, die Worte zu übersetzen, und beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, auf die sie sowieso nur Antworten bekommen würde, die sie eigentlich gar nicht hören wollte, sondern sich lieber in Geduld zu fassen.
Pia wurde auf eine harte Probe gestellt. Da es auch auf dem Markt von Soldaten nur so wimmelte, blieben sie in den Schatten der letzten Gebäude stehen. Nani entfernte sich ein paar Schritte; gewiss nicht zufällig gerade weit genug, dass sie sie eben nicht ansprechen konnte, ohne die Stimme zu heben und dabei unvorsichtig laut zu werden.
Zeit verging, eine unangenehm lange Zeit, in der es Pia immer schwerer fiel, ruhig dazustehen und gar nichts zu tun, aber irgendwann hörten sie endlich das Geräusch leiser Schritte, und Nani gebot ihr mit einer raschen Geste, noch weiter in die Schatten zurückzuweichen.
Alica und sie gehorchten, aber ihre Vorsicht erwies sich in diesem Fall als unnötig. Es waren keine Soldaten, die lautlos wie Gespenster aus der Nacht heraustraten und sich ihnen näherten, sondern zwei, drei, schließlich vier kleinwüchsige, schlanke Gestalten. Sie waren auf dieselbe Art gekleidet wie die Männer, die sie am Morgen vor Hernandez und seinen Steinzeit-Kriegen gerettet hatten, auch wenn die Nacht ihre schreienden Farben dämpfte, und Pia meinte, sich an mindestens eines der Gesichter zu erinnern. Dann trat eine fünfte Gestalt aus der Nacht heraus, an deren Gesicht sie sich ganz genau erinnerte.
»Lasar?«, fragte sie überrascht.
Lasar hielt ihr ein in eine Decke eingewickeltes längliches Bündel hin und lächelte schüchtern. »Ich bringe Euch Euer Eigentum, Erhabene«, sagte er stolz.
Pia nahm das Bündel automatisch entgegen und musste sein vertrautes Gewicht gar nicht spüren, um zu wissen, was darin eingewickelt war.
»Und das hier gehört Euch auch … glaube ich.« Lasar griff unter sein Hemd und zog die verchromte Pistole hervor, die sie vergangene Nacht unter ihr Kopfkissen geschoben hatte.
Pia nahm sie ebenfalls entgegen, starrte sie eine halbe Sekunde lang verwirrt an und blickte dann wieder auf Lasars Gesicht hinab. Der Junge strahlte vor Stolz, ihren Auftrag so präzise ausgeführt zu haben, aber Pias Gedanken bewegten sich plötzlich in eine ganz andere Richtung. »Lasar?«, murmelte sie noch einmal und fuhr dann mit einer fast schon erschrockenen Bewegung zu Nani herum. »Lasar ist …?«
»Mein Sohn?« Nani schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein. Das hier ist mein Sohn.« Sie deutete auf den spindeldürren Burschen, der sich am Morgen so ungeschickt mit seinen Jonglierkeulen angestellt hatte, dass Hernandez’ Männer wahrscheinlich jetzt noch Kopfschmerzen hatten, wenn sie daran dachten. »Ich habe ihn zum Weißen Eber geschickt, wie Ihr es mir aufgetragen hattet, aber er ist zu spät gekommen. Istvans Männer hatten Euer Zimmer bereits durchsucht.«
»Als ich gehört habe, was passiert ist, da habe ich Euer Eigentum in Sicherheit gebracht«, sagte Lasar stolz. »Ich wollte nicht, dass es Istvan in die Hände fällt.«
Pia lächelte dankbar, sah auf das Bündel in ihren Armen hinab und warf Lasar dann fast unmerklich einen fragenden Blick zu, den er ebenso lautlos und mit einem nur mit den Augen angedeuteten Nein beantwortete. Nein, niemand außer ihnen wusste, was sich unter der zerschlissenen Decke verbarg.
Das lautlose Zwiegespräch war jedoch weder Nani noch ihrer Familie entgangen, und der Blick, mit dem sie das Bündel maß, war unverhohlen neugierig. Pia tat so, als hätte sie ihn nicht gemerkt.
»Dann können wir jetzt gehen?«, fragte sie.
Nani machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, aber natürlich wagte sie es nicht, zu widersprechen, sondern wandte sich nur mit einer entsprechenden Geste an Lasar. »Du hast der Erhabenen einen großen Dienst erwiesen und kannst stolz auf dich sein. Warte noch eine Stunde, bis du zum Weißen Eber zurückgehst. Und du solltest niemandem sagen, dass du uns getroffen hast.«
»Ich … werde nicht zurückgehen«, sagte Lasar zögernd.
»Wieso nicht?«
Lasar fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er sah Pia an, nicht mehr Nani, als er weitersprach. »Ich möchte Euch begleiten. Ich kann Euch nützlich sein. Ich kann eine Menge Dinge, und was ich nicht kann, das kann ich lernen. Ich lerne schnell, und …«
»Das kommt nicht infrage«, unterbrach ihn Nani. »Du hast uns geholfen, und dafür sind wir dir alle dankbar, aber hier trennen sich unsere Wege. Wir können dich nicht brauchen.«
»Warte«, sagte Pia rasch. »Vielleicht hat er recht.«
»Aber wie …«
»Istvan würde ihn töten lassen, wenn er herausfindet, was er getan hat«, fuhr sie ungerührt fort. »Aber vorher würde er ihn foltern, und er würde ihm alles verraten.« Sie wedelte mit der Pistole, die Lasar ihr gegeben hatte. »Brack weiß, dass ich das hier besitze, und auch, dass ich es unter meinem Kopfkissen verwahre. Wenn Istvan unser Zimmer durchsucht und es nicht findet, dann wird er nicht lange brauchen, um sich zusammenzureimen, was passiert ist. Er ist nicht dumm.«