»Das mag sein«, gestand Nani. »Aber wir alle haben unser Kreuz zu tragen. Er wird schon damit fertig werden.«
Pia schwieg einen Augenblick, dann seufzte sie tief und hielt Nani die Pistole mit dem Griff voran hin.
»Erhabene?«
»Das ist eine tödliche Waffe aus meiner Heimat«, sagte Pia. »Du musst nur auf ihn zielen und an dem kleinen Hebel ziehen, und er stirbt auf der Stelle. Das Ergebnis ist dasselbe, als wenn wir ihn zurücklassen, aber so ist es leichter für ihn … und sicherer für uns.«
Nani starrte abwechselnd sie und die verchromte Pistole in ihrer Hand an, und in ihren Augen war plötzlich keine Spur von Ehrfurcht oder Bewunderung mehr zu erkennen, aber dafür blanke Wut. Pia fragte sich, was sie tun sollte, wenn Nani tatsächlich nach der Pistole greifen sollte, aber sie kam nicht in die Verlegenheit, eine Antwort auf diese Frage finden zu müssen. Nani trat demonstrativ einen Schritt zurück und senkte das Haupt. »Ganz, wie Ihr wünscht, Erhabene. Aber dann sollten wir jetzt aufbrechen. Und wir müssen uns eine Geschichte für den Jungen ausdenken. Er ist aus der Stadt. Die Wachen könnten ihn erkennen.«
Pia steckte die Pistole ein und bedeutete Lasar mit einem Kopfnicken, dass alles in Ordnung war. Der Junge nickte zwar nur knapp und mit versteinertem Gesicht, aber seine Augen leuchteten vor Stolz. Dabei war sie ganz und gar nicht sicher, ihm tatsächlich einen Gefallen getan zu haben – sie hatte Nani von einer anderen Seite kennengelernt, und die harte, herrschsüchtige Frau, mit der sie an jenem Morgen im Zelt gesprochen hatte, war vielleicht noch das Harmloseste, was sie auf der anderen Seite des Tores erwartete.
»Warum hast du ihr nicht einfach befohlen, ihn mitzunehmen?«, fragte Alica.
»Weil ich nichts davon halte, irgendjemandem Befehle zu erteilen. Es ist mir lieber, wenn sie versteht, was ich meine.«
»Ja, darauf wette ich«, sagte Alica spöttisch. »Sie macht mir auch ganz den Eindruck, als hätte sie es verstanden und würde ihren Fehler bereits bereuen.«
Nani wechselte noch ein paar Worte mit ihren Begleitern, und Pia erwartete, dass sie ihr Versteck nun verlassen und endgültig zum Markt gehen würden, aber sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Zwei Straßen weiter betraten sie einen dunklen Hinterhof, auf dem ein vierrädriger, mit Kisten und Bündeln hoch beladener Wagen stand. Nanis Begleiter zauberten von irgendwoher einen stämmigen Ochsen herbei, den sie schnell und beinahe lautlos in ein kompliziertes Geschirr spannten.
»Ist das euer Plan?«, fragte Pia, während sie der bunt gekleideten Gauklertruppe dabei zusah, wie sie den Wagen und seine Ladung ein letztes Mal überprüften, hier einen Knoten strafften, da prüfend an einem Seil zogen und dort ein Packstück zurechtrückten. In einem besonders großen Bündel glaubte sie das Zelt zu erkennen, in dem sie Nani und ihrem Mann das erste Mal begegnet war.
»Wir haben Flammenhuf verloren, unsere größte Attraktion«, sagte Nani. »Niemand besucht mehr unser Geschäft. Warum also sollten wir in der Stadt bleiben?« Sie hob die Schultern und streifte Pia mit einem Blick, in dem deutlich mehr Verbitterung zu lesen als in ihrer Stimme zu hören war. »Die Wachen am Tor wissen, was geschehen ist. Sie werden uns gehen lassen.«
»Wo sind die anderen Tiere?«, fragte Pia. »Die, die ich hinter dem Zelt gesehen habe?«
»Ich habe sie verkauft«, antwortete Nani. »Sie waren ohnehin zu nichts mehr nutze. Nichts als unnötige Fresser.«
Sie trat einen Schritt zurück, als sich der Wagen mit einem leisen Ächzen in Bewegung setzte, und machte zugleich eine Kopfbewegung auf das Bündel in Pias Armen. »Ihr könnt Eure Last auf den Wagen legen. Sie sieht schwer aus.«
»So schlimm ist es nicht«, antwortete Pia, selbst für ihren eignen Geschmack eine Spur zu hastig. »Und wenn es zu schwer wird, kann Lasar mir helfen. Was willst du den Wachen erzählen, wenn sie nach ihm fragen?«
»Warten wir ab, ob sie ihn überhaupt fragen«, antwortete Nani fast beiläufig. »Und wenn, ob sie ihn erkennen. Er ist nur ein Junge.«
»Und für Kinder interessieren sich die Soldaten hier nicht«, vermutete Pia. Außer, sie können Jagd auf sie machen und ihnen die Kehlen durchschneiden. Sie wollte es nicht, aber das grässliche Bild von heute Morgen tauchte plötzlich in lebensechten Farben wieder vor ihrem inneren Auge auf; vielleicht sogar in mehr als lebensechten Farben. War da tatsächlich so viel Blut gewesen?
Der Wagen wurde vorsichtig auf die Straße hinausbugsiert und schneller, als er nicht mehr Gefahr lief, irgendwo anzustoßen, begann aber dafür unter dem Gewicht seiner Ladung so bedrohlich hin und her zu schwanken und zu ächzen, dass Pia instinktiv ein paar Schritte zurückfiel, um nicht getroffen zu werden, falls die abenteuerliche Konstruktion unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen sollte. Nani verzog kurz und spöttisch die Lippen, trat aber nur schweigend an ihre Seite und nahm den Faden wieder auf, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.
»Was Ihr heute Morgen gesehen habt, das hat Euch entsetzt, nicht wahr?«, fragte sie.
»Dich nicht?«
Nani wich sowohl einer direkten Antwort als auch ihrem Blick aus. »Man gewöhnt sich an viele Dinge, Erhabene«, sagte sie. »Ich weiß, dass es nicht richtig ist. An manches sollte man sich nicht gewöhnen, weil die Gewohnheit den Dingen ihren Schrecken nimmt und man irgendwann glaubt, dass sie ganz normal sind, oder Kronns Wille oder Schicksal, und anfängt, sie einfach hinzunehmen.«
»Aber manchmal ist es der einzige Weg, die Wirklichkeit zu ertragen, nicht wahr?« Nani nickte, und Pia fragte mit leiser, fast entsetzter Stimme: »Soll das heißen, dass es … überall so ist? Dass sie überall Kinder töten?«
»Nicht überall und auch nur die, die nicht älter als zwölf Jahre sind und zu den Kinderbanden gehören«, antwortete Nani.
»Aber … warum?«
»Die Zeiten sind schwer und es gibt zu viele Menschen«, antwortete Nani. »Wenn sie alle erwachsen werden, so könnte das Land sie bald nicht mehr ernähren. Hungersnöte wären die Folge, vielleicht Unruhen und Krieg, oder noch Schlimmeres.«
Das klang so unglaublich, dass Pia mitten im Schritt stehen blieb und sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Moment mal!«, sagte sie entsetzt. »Willst du mir sagen, das wäre so etwas wie eure ganz spezielle Art von Geburtenkontrolle? Ihr tötet eure Kinder?«
»Sehr viel mehr Menschen würden sterben, wenn wir es nicht täten«, antwortete Nani. »Glaubt mir, wir haben all das erlebt. Es ist der einzige Weg, um größeres Unheil zu verhindern.«
»Also, mir würden da schon noch zwei oder drei andere einfallen«, antwortete Pia empört. »Wie wäre es, wenn ihr zum Beispiel nicht so viele Kinder bekommen würdet?«
»Ihr kennt die Menschen hier nicht«, behauptete Nani. »Es gibt ein Gesetz, nach dem niemand mehr als drei Kinder haben darf.«
»Aber niemand hält sich daran.«
»Wie wollt Ihr die Natur zwingen, sich an Gesetze zu halten?«
»Mit der Pille?«, schlug Pia vor. »Präservative? Die Spirale oder was auch immer ihr hierzulande benutzt! Und jetzt erzähl mir nicht, dass ihr hier nicht Mittel und Wege kennt, um zu verhindern, dass eine Frau ungewollt schwanger wird!«
»Selbstverständlich kennen wir solche Mittel«, erwiderte Nani. »Aber manche wollen sie nicht oder sind zu arm, sie zu bezahlen, oder zu dumm, sie richtig anzuwenden. Anderen verbietet es ihre Religion, und wieder anderen … ist es wahrscheinlich egal. Viele Frauen bekommen ein Kind und geben ihr ältestes dafür weg. Die, die Glück haben, tun irgendwo einen Unterschlupf auf oder verlassen die Stadt. Andere schließen sich den Banden an, und manche überleben es sogar und finden ein Auskommen … wie Euer junger Freund, der bei Brack arbeitet. Wusstet Ihr, dass er noch vor einer Weile ebenfalls auf der Straße gelebt hat?«