»Ja«, seufzte Pia. »Das alles kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Heißt das, so etwas gibt es dort, wo Ihr herstammt, auch?«
»Sagen wir: Unsere Welten sind nicht ganz so unterschiedlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hat.«
»Ihr müsst mir davon erzählen, Herrin«, bat Nani. »Es muss eine faszinierende Welt sein. Ich bin begierig, alles darüber zu erfahren.«
»Gern«, antwortete Pia. »Ich nehme an, wir werden eine Menge Zeit zum Reden haben, wenn wir die Stadt erst einmal verlassen haben?«
»Ein wenig schon«, antwortete Nani. Die Frage, die Pia ihr eigentlich hatte stellen wollen (und die sie sehr wohl verstanden hatte), ignorierte sie geflissentlich.
Vermutlich hätte die Zeit ohnehin nicht mehr gereicht. So langsam sich der überladene Ochsenkarren auch bewegte, hatten sie den Marktplatz doch schon fast erreicht, und Nani musste sie nicht eigens darauf hinweisen, dass es Zeit wurde, ihre Unterhaltung einzustellen und ihre Verkleidung zu vervollständigen. Nani wurde deshalb nun ein wenig schneller, wahrscheinlich um ihre Position in der Mitte des kleinen Trosses einzunehmen, die ihr als neues Oberhaupt des Familienclans zukam, und Pia ließ sich ein paar Schritt weit zurückfallen. Alica und sie gingen jetzt nebeneinander, nicht als Letzte in der Gruppe – diese Position nahm Lasar ein, vielleicht um eine bessere Chance zum Davonlaufen zu haben, sollte ihn doch jemand erkennen –, und ihr Herz schlug schon wieder ein wenig schneller, während sie ihre Umgebung unauffällig unter dem Rand ihrer Kapuze hervor im Auge zu behalten versuchte. Genau wie heute Morgen hatte sie auch jetzt das Gefühl, von nahezu jedem auf dem Markt angestarrt zu werden, und genau wie am Morgen war es auch dieses Mal keine Einbildung; selbst wenn es wohl eher der hoffnungslos überladene Wagen mitsamt der bunt gekleideten Schar in seiner Begleitung waren, die die allgemeine Aufmerksamkeit erregten.
»Ich hoffe, unsere weise Anführerin weiß, was sie tut«, murmelte Alica neben ihr. »Wenn uns irgendjemand erkennt, dann sind wir geliefert, das ist dir doch klar, oder?«
Natürlich war es das. Sie hatten genau in diesem Moment den einzigen Weg inmitten des Labyrinths aus Koppeln und hastig aufgestellten hölzernen Gattern erreicht, der breit genug war, um den überladenen Ochsenkarren passieren zu lassen, und Pia wurde das ungute Gefühl nicht los, nicht nur sehenden Auges in eine Falle zu marschieren, sondern auch noch eigenhändig die Tür hinter sich zuzuziehen und den Schlüssel herumzudrehen. Sie vertraute Nani, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, warum. Weil sie eine so liebreizende alte Dame war? Wohl kaum.
»Was hat Nanunana dir eigentlich gerade erzählt?«, fragte Alica. »Du hast ziemlich entsetzt ausgesehen.«
Im ersten Moment wollte Pia sie ganz instinktiv zurechtweisen, still zu sein, aber dann wurde ihr klar, dass das ein Fehler gewesen wäre. Sie gingen leicht nach vorn gebeugt und mit hängenden Schultern, damit ihre Größe nicht sofort auffiel, aber natürlich fielen sie auf und würden es noch in viel stärkerem Maße tun, wenn sie in verbissenem Schweigen nebeneinander hergingen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass man am wenigsten herausstach, wenn man sich ganz natürlich benahm. Sie widerstand der Versuchung, sich unauffällig nach allen Seiten umzusehen, und erzählte Alica, was sie von Nani erfahren hatte.
»Ja, irgendwie passt das«, sagte Alica finster, als sie fertig war. »Reizende Menschen leben hier, nicht wahr? Eigentlich kein Wunder, dass der Comandante in einer Gegend wie dieser gelandet ist.« Sie legte übertrieben die Stirn in Falten. »Ich frage mich nur, was wir in unseren früheren Leben ausgefressen haben, um so bestraft zu werden.«
»Also, in deinem Fall könnte ich es dir wahrscheinlich sagen, wenn du es wirklich hören willst.«
»Danke, gleichfalls«, erwiderte Alica spitz. »Du scheinst zu vergessen, dass ich seit einem Jahr mit Esteban zusammen bin. Nur, falls es dir noch niemand gesagt hat, Süße: Esteban neigt zum Plaudern, vor allem im Bett.«
»Ich nehme an, das ist dort seine Hauptbeschäftigung?«
»Hm«, machte Alica. »Auf jeden Fall redet er gerne und viel. Ich weiß alles über dich und ich könnte dir Dinge über dich erzählen, die du wahrscheinlich selbst nicht weißt.«
»Heb sie dir auf, bis ich dich zu meiner Oberpriesterin ernannt habe. Wenn du Glück hast und länger lebst als ich, dann kannst du ja das erste Evangelium über mich schreiben.«
»Das Evangelium nach Alica«, sinnierte Alica. »Klingt irgendwie gut, finde ich. Es hat was.« Sie lachte kurz und so hell, dass sich zwei oder drei Köpfe in ihrer unmittelbaren Nähe hoben und ihnen noch mehr neugierige Blicke folgten, wurde wieder ernst und deutete auf das Tor. Der Wagen hatte das gemauerte Gewölbe fast erreicht, und Pia registrierte voller Unbehagen, dass auch die Anzahl der Wachen dort verdoppelt worden war. Rechts und links des Tunnels standen jetzt jeweils zwei Krieger. Sie unternahmen keinen Versuch, den Wagen aufzuhalten, aber das war auch gar nicht nötig. Wenn sie jetzt schon das Gefühl hatte, in einer Falle zu sitzen, dann musste sie für das da wohl ein neues Wort erfinden.
Alicas Gedanken schienen sich in eine ganz ähnliche Richtung zu bewegen. »Hat dich unsere geehrte Führerin eigentlich in ihren zweifellos genialen Plan eingeweiht?«
»Welchen Plan?«
»Wie wir an den Wachen vorbeikommen.«
Pia bezweifelte, dass Nani einen Plan hatte. »Nein«, sagte sie. Sie bezweifelte auch, dass ein solcher Plan überhaupt nötig war.
»Nein? Das ist genial! Warum ist mir das nicht eingefallen? Wenn man keinen Plan hat, dann kann einem eigentlich auch nichts dazwischenkommen, nicht wahr?«
»Ganz genau«, antwortete Pia. »Und jetzt halt endlich die Klappe. Ich muss nachdenken!«
Wenn es dazu nicht längst zu spät war. Nani und ihr keulenschwingender Sohn waren bereits in den Schatten des Torgewölbes verschwunden, und der schnaubende Ochse folgte ihnen genau in diesem Augenblick. Es war eindeutig zu spät, um jetzt noch umzukehren und – dann wusste sie, was zu tun war.
Der Gedanke war so naheliegend, dass Pia sich verblüfft fragte, wieso sie überhaupt darüber nachdenken musste.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Bleib einfach in meiner Nähe und sei um Himmels willen still!«
»Ich sage kein Wort mehr«, versprach Alica. »Mein Wort darauf. Meine Lippen sind versiegelt. Du wirst keinen Ton mehr von mir hören, bevor du es mir nicht ausdrücklich gestattest, und …«
Pia warf ihr einen giftigen Blick zu, und Alica ließ es sich zwar nicht nehmen, ihr eine Grimasse zu schneiden, aber sie verstummte immerhin, und das war im Moment das Wichtigste.
Der Tunnel war so dunkel, dass man nicht einmal die sprichwörtliche Hand vor Augen sah, doch an seinem anderen Ende flackerte ein helles rötliches Licht, in dessen Schein sie ihre schlimmsten Befürchtungen gleichzeitig erfüllt wie auch nicht eingetroffen sah. Das Tor war nicht geschlossen, aber das schwere Fallgatter war so weit heruntergelassen, dass sich wahrscheinlich selbst Nani bücken musste, um darunter hindurchzupassen, und dahinter hatte mindestens ein Dutzend Soldaten Aufstellung genommen. Pia schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Plan tatsächlich ein Plan und nicht nur ein frommer Wunsch war. Aber jetzt hatten sie gar keine andere Wahl mehr, als es herauszufinden.
Der Ochsenkarren hielt mit einem Ruck an, der die gesamte Ladung bedrohlich hin und her schwanken ließ, und Nani bückte sich unter dem Fallgatter hindurch, um mit den Soldaten zu sprechen. Alica wollte sich an dem Wagen vorbeischieben und ihr folgen, aber Pia hielt sie mit einer hastigen Geste zurück und winkte sie gleichzeitig näher an sich heran. Alica gehorchte und Pia legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm. Alica wirkte im allerersten Moment überrascht und vielleicht sogar ein bisschen verärgert, aber dann begriff sie wohl, was Pia vorhatte, und machte stattdessen eine übertriebene Verschwörermiene.