Nani redete eine geraume Weile mit den Soldaten, und obwohl Pia die Worte nicht verstehen konnte, machte ihr Tonfall doch klar, dass es sich nicht um ein freundschaftliches Gespräch handelte. Schließlich bückte sie sich erneut unter dem Fallgatter hindurch, um mit ihrem Sohn zu sprechen, und nur einen Moment später hörte Pia das Klirren schwerer Ketten, und das Fallgatter wurde weit genug nach oben gezogen, um den Ochsenkarren passieren zu lassen.
Das Fahrzeug setzte sich knarrend in Bewegung, und Pia hüllte einen schützenden Mantel aus Schatten um Alica und sich und trat hinter ihm durch das Tor.
Ihr Herz hämmerte so laut in ihrer Brust, dass sie beinahe davon überzeugt war, dass die Soldaten das Geräusch hören und sie allein deshalb entdecken mussten. Sie wusste, dass die Schatten ihre Freunde waren und sie zuverlässig vor feindseligen Blicken beschützten, aber sie hatte ihren Schutz noch nie in Anspruch genommen, wenn sie sich bewegte. Sie konnte nicht einmal ahnen, ob es funktionierte.
»Und du bist sicher, dass du weißt, was du tust?«, murmelte Alica nervös.
»Halt um Himmels willen die Klappe!«, zischte Pia. »Willst du, dass sie uns hören?«
Alica machte ein betroffenes Gesicht und verstummte, aber vielleicht war es bereits zu spät und der Schaden schon angerichtet. Der Gardist, mit dem Nani gerade gesprochen hatte, hatte sich herumgedreht und sah genau in ihre Richtung. Er wirkte verwirrt, aber auch misstrauisch, und je länger er so dastand, desto größer wurde der Anteil von Misstrauen in seinem Blick. Es war genau wie heute Morgen, als Hernandez in den Brunnenschacht herabgesehen hatte, und Pia lernte in diesem Moment etwas sehr Wichtiges über ihre unheimliche Fähigkeit, in den Schatten zu wandeln: Sie war keineswegs unsichtbar. Der Mann sah irgendetwas, nur war er einfach nicht in der Lage, das, was er sah, richtig zu deuten.
Aber sie begriff auch, dass das nicht mehr lange so bleiben würde …
Pia schloss die Finger fester um Alicas Handgelenk, blickte sich mit klopfendem Herzen um und hätte um ein Haar laut aufgestöhnt, als sie die dunkelhaarige Gestalt nur ein paar Schritte entfernt erkannte.
Es war niemand anderer als Istvan. Offensichtlich hatte der Kommandant der Stadtwache beschlossen, jeden höchstpersönlich zu kontrollieren, der an diesem speziellen Abend die Stadt zu verlassen versuchte.
Unglücklicherweise war er auch der Einzige, der nicht Schulter an Schulter mit einem der anderen Soldaten dastand. Der Karren rollte ächzend und immer bedrohlicher wackelnd weiter, und Istvans Männer bildeten einen lebenden Kordon, schmal genug, um kaum eine Handbreit Platz zwischen sich und dem Wagen und seinen Begleitern zu lassen. Wenn sie versuchten, sich an ihnen vorbeizumogeln, standen ihre Chancen nicht schlecht, einen der Männer anzurempeln. Die einzige Lücke in dieser lebenden Mauer befand sich unmittelbar neben Istvan, und sie war ungefähr einen halben Meter breit.
Großzügig geschätzt.
»Gute Idee«, sagte Alica, die mit einem Mal die Fähigkeit entwickelt zu haben schien, Pias Gedanken zu lesen. »Das meinst du aber jetzt nicht ernst, oder?«
Nein, ganz und gar nicht. Das Einzige, was sie in diesem Moment wirklich und vollkommen ernst meinte, das war ihr inbrünstiger Wunsch, die Augen aufzumachen und endlich aus diesem Albtraum zu erwachen, selbst um den Preis, dies in Estebans Haus zu tun und ein Killerkommando der Peraltas unten im Erdgeschoss randalieren zu hören.
Pia überlegte fast verzweifelt, wie sie irgendwie aus dieser Falle herauskommen sollte, in die sie sich mit so großer Mühe selbst hineinmanövriert hatte, machte einen Schritt auf Istvan zu und registrierte erst, als sie den zweiten tat, dass ihre Füße sich wie von selbst bewegt hatten.
Der nächste Schritt führte sie fast auf Armeslänge an Istvan heran und die wiederum nächsten zwei oder drei an ihm vorbei und auf die andere Seite des lebenden Belagerungsrings, zu dem sich seine Männer vor dem Tor aufgestellt hatten. Als sie an Istvan vorbeiging, bemerkte sie einen sonderbaren Ausdruck in seinen Augen; etwas wie ein vages Erstaunen, das fast – aber eben nicht ganz – stark genug war, um sein Bewusstsein zu erreichen und den Bruchteil einer Sekunde vorher erlosch.
Und da war noch etwas. Sie hatte nach wie vor die Decke mit dem darin eingewickelten Schwert unter den linken Arm geklemmt und beinahe vergessen, doch als sie Istvan am nächsten war, da glaubte sie ein sachtes Vibrieren unter dem groben Stoff zu spüren und etwas wie ein noch viel sachteres, aber gieriges Kratzen tief am Grunde ihrer Seele. Es wurde schwächer und erlosch, als sie etwas mehr als eine Armeslänge von Istvan entfernt war; vielleicht die Distanz, in der sie ihn gerade noch mit einem Schwerthieb erreicht hätte.
Pia blieb gerade lange genug stehen, um sich zu orientieren und festzustellen, dass sich die Ebene vor der Stadt so radikal verändert hatte, dass sie sich eben nicht orientieren konnte, vertraute noch einmal blind auf den Ratschlag ihrer magischen Stiefel und entfernte sich ein gutes Dutzend weiterer Schritte von Istvan und seinen Soldaten, bevor sie abermals stehen blieb. Ihre Stiefel protestierten nicht dagegen.
»Das war knapp«, flüsterte Alica neben ihr. »Hättest du das nächste Mal vielleicht die Güte, mir vorher Bescheid zu sagen, wenn du so eine Irrsinnsaktion planst?«
»Hättest du dann dabei mitgemacht?«
Alica schnappte hörbar nach Luft. »Sehe ich so aus?«
»Eben«, antwortete Pia.
Alica schoss einen wütenden Blick in ihre Richtung ab, und Pia deutete rasch auf den davonrumpelnden Wagen und ging los, bevor sie sie mit weiteren Vorwürfen eindecken konnte. Die Schatten verbargen sie noch immer zuverlässig, aber Pia spürte auch, dass dieser beschützende Mantel dünner zu werden begann; offensichtlich standen ihr diese Kräfte nicht unbegrenzt zur Verfügung. So eilte sie vorsichtshalber um den Wagen herum und brachte ihn als zusätzliche Deckung zwischen sich und die Soldaten, bevor sie ihren magischen Schutz aufgab. Etwas hob sich unsichtbar und lautlos und verschmolz mit der Nacht, und sie glaubte etwas wie ein erleichtertes Seufzen zu hören.
»Und jetzt?«, fragte Alica, als sie ihren Arm losließ. »Ich meine: Sind wir wieder sichtbar?«
»Das waren wir die ganze Zeit. Istvan und seine Leute haben es nur nicht gewusst.«
»Aha«, sagte Alica.
Nani kam um den Wagen herum, sah sich suchend um und wirkte dann nicht unbedingt erleichtert, Alica und sie zu erblicken. »Erhabene? Ist das klug, Euch jetzt schon wieder zu zeigen?«
»Nein«, antwortete Pia. »Wenn ich klug wäre, dann hätte ich die Finger von einem gewissen Drogendeal gelassen und würde jetzt zusammen mit Jesus in einer Cantina sitzen und mich betrinken.«
»Herrin?«, fragte Nani irritiert.
»Vergiss es.« Pia winkte ab. »Irgendwelche Probleme?«
»Sind wir hier oder nicht?«, gab Nani zurück.
»Die Kontrollen waren sehr streng. Und Istvan selbst anwesend. Traut er seinen Männern so wenig zu?«
»Nein«, antwortete Nani. »Aber Euch anscheinend noch mehr. Er weiß, wer Ihr seid.«
Dann wusste er möglicherweise mehr als sie selbst, dachte Pia. »Aber er hat euch gehen lassen.«
»Seine Männer beobachten uns«, erwiderte Nani. »Aber die größte Gefahr ist vorbei. Macht Euch keine Sorgen, Erhabene. Ihr seid in Sicherheit.«
Sie klang nicht so überzeugt von ihren eigenen Worten, wie es Pia recht gewesen wäre. Nani versuchte eine Zuversicht zu verbreiten, die sie nicht wirklich empfand. Aber sie sparte sich jede entsprechende Bemerkung. Immerhin waren sie aus der Stadt heraus, und das war schon mehr, als sie noch vor wenigen Minuten auch nur für möglich gehalten hätte.
»Und wie geht es weiter?«, fragte Alica.
Pia übersetzte, und Nani machte eine flatternde Handbewegung hinter sich. »Es gibt einen Treffpunkt, zwei Stunden von hier …« Sie maß den im Schneckentempo dahinrumpelnden Ochsenkarren mit mit einem langen stirnrunzelnden Blick und verbesserte sich: »Na ja, sagen wir drei. Dort wird sich jemand um Euch kümmern.«