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Irgendwie gefiel Pia diese Formulierung nicht, aber sie gestattete diesem Gedanken nicht, zu echtem Misstrauen zu werden, und bekundete Nani nur mit einem stummen Kopfnicken ihr Einverständnis. Nani verschwand und begann hektisch mit einem ihre Söhne zu tuscheln, und Pia nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal und mit der gebührenden Aufmerksamkeit umzusehen.

Der Eindruck von allgemeinem Chaos, den sie vorhin schon einmal gehabt hatte, wiederholte sich. Das Gelände vor dem Stadttor ähnelte dem Anblick, den der Rindermarkt auf der anderen Seite bot, nur in viel größerem Maßstab. Auch hier waren in aller Hast Koppeln und hölzerne Gatter aufgebaut worden, in denen sich Dutzende, wenn nicht Hunderte oder gar Tausende von Tieren drängten, deren Laute und vor allem Gerüche die Nacht ringsum erfüllten. Sie begriff erst jetzt, was Valoren damals gemeint hatte, als sie von einer Karawane gesprochen hatte. Diese unzähligen Tiere waren längst nicht nur für WeißWald und die hungrigen Mägen seiner Bewohner gedacht, sondern versorgten offensichtlich einen großen Teil des ganzen Landes. Überall brannten Feuer, deren Licht die Dunkelheit vertrieb, ohne der Kälte wirklichen Einhalt gebieten zu können. Anders als auf der anderen Seite der Mauer gab es hier Platz im Überfluss, sodass nicht ein so klaustrophobisches Gedränge herrschte.

Sie kamen an großen Karreés aus mit Heu, Stroh und anderem Tierfutter beladenen Wagen vorbei, an Ansammlungen kleiner, zum Teil schreiend bunter Zelte und einmal an etwas, das Pia verblüffend genau an eine Wagenburg erinnerte, wie sie sie aus alten Wildwest-Filmen kannte; samt den bewaffneten Posten, die ringsum patrouillierten.

Nani und ihre Familie schienen hier nicht unbekannt zu sein. Immer wieder wurden ihnen Grüße oder kurze scherzhafte Bemerkungen zugeworfen, und wenn Nani jedes Mal, das sie angesprochen wurde, auch nur mit einer kurzen Unterhaltung reagiert hätte, dann wären sie wahrscheinlich noch bei Sonnenaufgang in Sichtweite der Stadt gewesen. Und so korrigierte sie Nanis Einschätzung von gerade für sich um eine Stunde nach oben, und vielleicht war ja das noch zu optimistisch. Selbst für das kleine Stück bis zum Waldrand, das Alica und sie vor wenigen Tagen in gerade einmal zehn Minuten zurückgelegt hatten, brauchten sie nahezu eine Stunde, und es gab noch einen letzten unangenehmen Moment, in dem Pia instinktiv den Atem anhielt und überlegte, ob es nicht besser war, Alica und sich vorsichtshalber noch einmal in einen Mantel aus schützenden Schatten zu hüllen. Einige Männer hatten eine Absperrung aus hastig in den Boden gerammten Pfählen errichtet, zwischen denen Seile gespannt waren, damit Mensch und Tier nicht versehentlich in den tödlichen Wald gerieten. Es gab nur einen einzigen, wenn auch sehr breiten Durchgang, wo ein Pfad durch den Wald geschlagen worden war, und er wurde von mindestens einem Dutzend Soldaten der Stadtgarde bewacht, die den Wagen zwar einfach durchwinkten, ohne ihn anzuhalten oder gar seine Ladung zu untersuchen, aber nicht mit misstrauischen Blicken geizten – die vor allem Alica und sie trafen.

Sie kamen kaum noch von der Stelle. Der Pfad war breit genug, um drei Wagen wie dem ihren nebeneinander Platz zu bieten, aber hunderte Räder und tausende Hufe hatten ihn in schlammigen Morast verwandelt, in dem der Wagen fast bis zu den Achsen versank und mehr als einmal ganz stecken zu bleiben drohte. Die Kraft des Ochsen allein reichte längst nicht aus, um ihn immer wieder weiterrollen zu lassen. Nani und ihre ganze Familie und schließlich auch Alica und sie griffen nach Kräften mit zu und zogen und stießen und zerrten, und kurz bevor sie das Ende des Pfades erreichten, machte Pias Herz noch einmal einen erschrockenen Satz bis in ihren Hals hinauf, als sich zwei oder drei von Istvans Soldaten des Anblickes erbarmten und wortlos hinzutraten. Um ihnen zu helfen.

Doch irgendwann war auch das vorbei. Die letzten Bäume des Schlingwalds blieben hinter ihnen zurück, und unter den Rädern des Wagens war jetzt zwar noch immer kein fester Boden, aber wenigstens auch kein dünnflüssiger Morast mehr, der sein Möglichstes tat, sie direkt bis zum Mittelpunkt der Erde hinabzusaugen. Die Soldaten verschwanden so wortlos und schnell, wie sie aufgetaucht waren, und warteten nicht einmal auf ein Wort des Dankes (so, wie sie Nani einschätzte, hätten sie es auch nicht bekommen), und der Wagen rumpelte noch ein kleines Stück weiter und geriet noch einmal bedrohlich ins Wanken, als Nanis Söhne ihn von dem aufgeweichten Pfad herunter und auf den steinhart gefrorenen Boden daneben zu bugsieren versuchten.

Sie hatten es fast geschafft, als der Wagen nicht nur endgültig stecken blieb, sondern sich auch mit einem bedrohlichen Ächzen zur Seite zu neigen begann. Nani und ihre Söhne vermochten die drohende Katastrophe im letzten Moment zwar zu verhindern, aber der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen, der für Pia etwas unangenehm Endgültiges hatte. Sie konnte sehen, wie die Hinterräder mit einem glucksenden Geräusch zuerst bis zu den Achsen und dann noch ein gutes Stück weiter einsanken, und ein Teil der Ladung verrutschte endgültig und polterte auf den Boden herab.

»Na wunderbar«, nörgelte Alica. »Genau das, was uns jetzt noch gefehlt hat.«

Treffender hätte Pia es auch nicht ausdrücken können. Sie maß den leicht schräg stehenden Wagen mit einem langen, missmutigen Blick, griff aber nur schweigend mit zu, als sich Lasar und Nanis Söhne um die Hinterräder versammelten und mit aller Gewalt daran zu ziehen begannen. Nani zerrte am Geschirr des Ochsen und bedachte das Tier zusätzlich mit einem ganzen Schwall wüster Beschimpfungen und Drohungen. Der Wagen begann noch stärker zu ächzen; ein Geräusch, in das sich jetzt auch ein anderer, bedrohlicherer Laut mischte, der Pia an zerbrechendes Holz und überlastete Verbindungen denken ließ. Die Ladung verrutschte weiter und befand sich jetzt in einer Schräglage, die eigentlich schon den Gesetzen der Physik spottete. Pia konnte hören, wie die straff gespannten Seile unter der Belastung zu summen begannen.

»Das hat keinen Sinn.« Sie ließ die Speiche los, an der sie ebenso vergeblich gezerrt hatte wie alle anderen. Der Wagen saß so unverrückbar fest, als wäre er einbetoniert. »Ohne Hilfe bewegt sich das Ding keinen Zentimeter mehr.«

Lasar nickte betrübt, und auch Nanis Söhne sahen ziemlich niedergeschlagen aus, aber Alica schüttelte nur grimmig den Kopf. »Blödsinn!«, fauchte sie. »Ich kapituliere doch nicht vor so ein bisschen Matsch! Los! Wir sind doch viel stärker als diese Zwerge!« Pia sah sie verstört an, und Alica machte ein noch grimmigeres Gesicht, griff mit beiden Händen nach einer Speiche und stemmte die Füße in den Boden. Wenigstens versuchte sie es. Zu ihrem Pech war der Boden nicht fest, sondern hatte eher die Konsistenz von dünnflüssiger Schmierseife. Der Wagen rührte sich nicht einmal um einen Millimeter, aber Alicas Füße rutschten nach hinten weg, und sie fiel mit einem lautstarken Platschen der Länge nach in den Schlamm.

Pia brachte es irgendwie fertig, nicht laut loszubrüllen, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie, und es fiel ihr sogar noch schwerer, als Alica sich nach einem Moment fluchend aufrappelte und dabei noch einmal und diesmal tatsächlich mit dem Gesicht voran in den Morast fiel.

Mit dem zweiten Anlauf gelang es ihr tatsächlich, auf die Füße zu kommen. »Witzig«, sagte sie, spuckte einen Mundvoll Schlamm aus und fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht, ohne dessen Anblick dadurch wesentlich zu verbessern. »Wirklich, un-ge-heu-er witzig.«

»Finde ich schon«, feixte Pia.

»Ach?« Wenigstens Alicas Augen waren in der schwarzen Schlammpackung unter ihrer Kapuze zu sehen. Sie schossen kleine feurige Blitze in ihre Richtung ab. »Der Erste, der lacht, ist tot!«, versprach sie grimmig. »Übersetz das ruhig.«

Pia verzichtete vorsichtshalber darauf, doch sie war sicher, dass die anderen ihre Worte trotzdem verstanden hatten. Niemand lachte – wenigstens nicht laut –, aber Lasar drehte sich hastig weg, als Alica ihn herausfordernd anfunkelte, und auch die anderen senkten hastig die Blicke oder wirkten mit einem Mal furchtbar beschäftigt, ohne wirklich etwas zu tun.