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Dann erscholl hinter ihnen doch ein dunkles, kehliges Lachen, und als Pia alarmiert herumfuhr, trat eine hochgewachsene Gestalt aus den Schatten des Waldrandes. Er musste entweder lebensmüde sein, dachte Pia, oder ganz besonders mutig – was bei Alicas momentaner Stimmung mehr oder weniger auf dasselbe hinauslief.

»Ich fürchte, da hilft nur noch abladen. Ich helfe euch, wenn ihr es wünscht.«

Die Gestalt kam näher, und Pia fuhr leicht erschrocken zusammen, als ihr zweierlei auffiel, und das eine war so beunruhigend wie das andere: Der Mann war mindestens so groß wie sie, wenn nicht größer, und überaus kräftig gebaut, und er trug eine Art von Kleidung, die ihr nur zu unangenehm vertraut vorkam: Helm, Harnisch und Mantel der Stadtgarde von WeißWald.

Und seine Stimme … kam ihr irgendwie bekannt vor, auch wenn sie zugleich wusste, dass das ganz und gar unmöglich war.

Auch Lasar und Nanis Söhne waren beim Klang der Stimme erschrocken zusammen- und herumgefahren, und für einen Moment war die Spannung, die in der Luft lag, fast mit Händen zu greifen. Lasar trat mit einem raschen Schritt zwischen sie und den gepanzerten Riesen, und in seiner rechten Hand erschien wie durch Zauberei ein winziges Messer. Angesichts des Giganten, der ihn um fast einen halben Meter überragte, wirkte es nicht einmal mehr rührend, sondern einfach nur komisch, aber Pia empfand trotzdem ein Gefühl warmer Dankbarkeit … allerdings nur für eine einzelne Sekunde.

Dann trat der Fremde einen weiteren Schritt auf sie zu, und sie konnte sein Gesicht erkennen und spürte, wie sie innerlich zu Eis erstarrte. Neben ihr stieß Alica so erschrocken die Luft zwischen den Zähnen aus, dass es wie ein kleiner Schrei klang, und auch Nani kam mit schnellen Schritten herbei.

Ihre Reaktion war allerdings ganz anders. Sie wirkte ebenso angespannt und alarmiert wie alle anderen, und auch in ihrer Hand blitzte etwas, das verdächtig nach einer Waffe aussah …doch dann riss sie die Augen auf und schien zwar beinahe noch überraschter, das aber auf eine durchaus angenehme Art.

»Lion?«, murmelte sie.

Der Riese machte einen weiteren Schritt, blieb wieder stehen und nahm den Helm ab, und Pias allerletzte Hoffnung, sich getäuscht zu haben oder nur dem schlechten Licht und einer zufälligen Ähnlichkeit aufgesessen zu sein, zerplatzte endgültig, als sie sein Gesicht aus der Nähe sah.

»Wenn das nicht Naninaranat ist, wie sie leibt und lebt«, sagte er lächelnd, deutete eine übertriebene Verbeugung in Nanis Richtung an und drehte sich dann zu Pia um. »Und Ihr müsst Gaylen sein, Erhabene«, sagte er, zwar in durchaus ehrfürchtigem (oder doch wenigstens respektvollem) Ton, aber auch ohne dass das Funkeln von gutmütigem Spott ganz aus seinen Augen gewichen wäre. »Ihr kennt mich nicht, aber ich glaube, wir haben eine Verabredung. Mein Name ist Lion. Ter Lion.«

Pia hörte die Worte kaum, und wenn, dann sagten sie ihr nichts. Sie starrte in das vertraute Gesicht hinauf und lauschte dem Klang der ebenso vertrauten Stimme. Ihr Verstand versuchte immer lauter und hysterischer, sie davon zu überzeugen, dass das, was sie sah, vollkommen unmöglich war.

»Jesus?«, murmelte sie fassungslos.

XXVIII

Hinterher kam es ihr vor, als hätte es eine Stunde gedauert, in der sie einfach nur dagestanden und das so vertraute Gesicht unter dem stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haar angestarrt hatte, auch wenn es in Wahrheit wohl nur ein paar Sekunden gewesen waren. Schließlich blinzelte der muskelbepackte Riese und zwang einen fragenden Ausdruck auf seine Züge. »Erhabene?«

»Du bist … Sie … Sie sind nicht …«, stammelte sie. »Jesus?« Allein die Frage zu stellen, kam ihr selbst schon beinahe absurd vor. Es war Jesus, daran gab es nicht den allermindesten Zweifel. Sie kannte jeden Quadratmillimeter seines Gesichts, jede Linie und winzige Falte darin, jede Pore seiner Haut. Es war sein Gesicht, es waren seine Augen und seine Stimme, und noch viel eindeutiger als das, was sie sah, war das, was sie fühlte. Es war Jesus.

Und zugleich war er es auch wieder nicht. Alles Vertraute an ihm war da, alles, was sie seit so vielen Jahren kannte und liebte, aber da war auch noch mehr, eine zusätzliche Komponente, die ihn nicht wirklich zu einem Fremden machte, aber seine Persönlichkeit um Facetten bereicherte, die es bei dem anderen Jesus nie gegeben hatte.

»Ter … Lion?«, murmelte sie.

Jesus/Ter Lion nickte. »Das ist mein Name. Mein Name und mein Rang. Eine gemeinsame Freundin hat mich gebeten, mich um Euch zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Ihr sicher zur Küste gelangt.«

»Valoren?«, vermutete Pia. Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Gedanken so weit zu ordnen, dass sie wenigstens reden konnte. Und es fiel ihr noch sehr viel schwerer, sich selbst davon zu überzeugen, dass der Zweimeterriese vor ihr nicht Jesus war.

»Sie hat Euch meinen Namen nicht genannt?«, fragte Ter Lion/Jesus und schenkte Nani gleichzeitig einen leicht vorwurfsvollen Blick. Nani wollte antworten, doch Pia kam ihr zuvor.

»Doch, das hat sie«, sagte sie rasch. »Ich hatte nur … jemand anderes erwartet.«

»Keinen Soldaten der Garde?« Lion lachte, und es war so genau Jesus’ vertrautes, gutmütiges Lachen, dass Pia für einen Moment die Augen schloss und fest davon überzeugt war, sich in ihrem Zimmer in den Favelas wiederzufinden, sobald sie die Lider hob.

Als sie es tat, stand Ter Lion noch immer vor ihr, und hinter ihm erhoben sich die blassen Stämme des Schlingwaldes, die im Schein des Mondlichts mehr denn je wie die gebleichten Knochen mythischer Urzeitwesen aussahen.

»Ich bin vieles, wenn Ihr es wünscht, Gaylen«, sagte er ernst. »Ich war nicht sicher, ob es Euch gelingt, die Stadt zu verlassen, sodass ich mir vorsichtshalber eine passende Verkleidung zugelegt habe.«

Pia blinzelte ein paarmal und stellte eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Ter Lion und seinem Doppelgänger aus der richtigen Welt fest: Beide waren mutig und zweifellos ebenso treu, aber manchmal auch ein wenig dämlich. Hatte er allen Ernstes gedacht, sich in der Verkleidung eines Gardesoldaten in eine Stadt zu schleichen, deren Bewohner im Schnitt gerade einmal halb so groß waren wie er?

Ein sonderbar keuchender Laut erinnerte sie daran, dass Alica auch noch da war. Sie wandte den Kopf und machte eine rasche Handbewegung, als Alica dazu ansetzte, etwas zu sagen.

»Frag erst gar nicht«, sagte sie.

Natürlich fragte Alica trotzdem. »Was … was sucht der denn hier?«, stammelte sie.

»Das erkläre ich dir später«, sagte Pia. »Aber er ist nicht der, für den du ihn hältst.«

»Das ist Jesus!«, sagte Alica überzeugt.

»Nein«, antwortete Pia. »Oder doch, ja, irgendwie schon. Aber eigentlich auch nicht.«

»Aha«, sagte Alica. Sie starrte Ter Lion aus aufgerissenen Augen an, schlug die Kapuze zurück und fuhr sich mehrmals und mit beiden Händen durch das Gesicht, woraufhin immerhin etwa ein Zehntel ihrer (schlammigen) Haut zum Vorschein kam.

»Eure Dienerin spricht unsere Sprache nicht?«, erkundigte sich Ter Lion. Immerhin bezeichnete er sie als Dienerin, nicht als Sklavin, was schon mal ein Fortschritt war. Trotzdem verbesserte ihn Pia schon fast automatisch: »Alica ist meine Freundin, nicht meine Dienerin.«

»Eure Freundin«, bestätigte er. »Gut. Sie weiß, wer ich bin?«

»Ja«, seufzte Pia. »Wahrscheinlich besser, als du ahnst.« Ter Lion sah sie verwirrt an, und Pia fügte mit einem hastigen Nicken hinzu: »Ja.«

»Gut«, sagte Lion noch einmal, setzte seinen albernen Helm wieder auf und deutete dann mit einer flatternden Handbewegung auf den stecken gebliebenen Wagen. »Und jetzt sollten wir sehen, dass wir dieses famose Gefährt wieder flottbekommen. Die anderen warten beim Tränensee auf uns, aber bis dorthin ist es noch ein weiter Weg, und ich möchte ihre Geduld nicht länger als unbedingt nötig strapazieren. Fangt an, ihn zu entladen.«