»Ihr wisst entweder wirklich nicht, wovon ich rede, oder seid eine ganz außergewöhnlich gute Lügnerin«, sagte er. »Ich bin nicht ganz sicher, welcher Gedanke mir angenehmer ist.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Pia eingeschnappt. »Aber beantworte mir doch bitte eine Frage: Wenn dieser Eirann, oder wie immer er wirklich heißen mag, doch so besorgt um mein Wohl war, warum ist er dann nicht selbst gekommen, um mich zu retten?«
Lion lachte leise. »Wie gesagt, Ihr schauspielert entweder ganz ausgezeichnet oder wisst wirklich nichts.«
»Nimm an, es wäre so.«
»Wie?«
»Lion!«
»Schon gut.« Lions Blick streifte kurz das Schwert, das sie wieder in die Decke eingerollt hatte und unter dem linken Arm trug. »Kein Elf kann sich WeißWald auch nur nähern«, sagte er. »Es gibt einen Schutzzauber, der das verhindert. Die Spitzohren ertragen es nicht, auch nur in Sichtweite vom Turm des Hochkönigs zu gelangen.«
Pia tat diese Erklärung als genauso lächerlich ab, wie sie sich anhörte, aber dann fiel ihr doch irgendetwas daran auf, und sie dachte einen Moment lang intensiver darüber nach. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um den Fehler darin zu entdecken.
»Wenn das so ist«, fragte sie, »wie konnte ich dann in WeißWald leben? Und sogar den Turm des Hochkönigs betreten?«
»Weil dieser Zauber natürlich nicht auf die wirkt, die das alte Blut in sich tragen«, antwortete Lion. »Oder auf Betrüger.«
»Danke, das habe ich verstanden«, sagte Pia spitz.
Lion lächelte nur. »Euch habe ich nicht damit gemeint, Gaylen«, sagte er.
Pia glaubte ihm. Es war nicht nur seine unheimliche Ähnlichkeit mit Jesus, die sie zu der Überzeugung brachte, dass er sie nicht belog. Er strahlte etwas aus, das sie nicht wirklich in Worte kleiden konnte, das aber auch nicht die Spur eines Zweifels aufkommen ließ. Etwas wie … Wahrhaftigkeit. Diese Mann hatte es nicht nötig, zu lügen.
»Es scheint dir nicht besonders viel auszumachen«, sagte sie.
»Was?«
Sie war sicher, dass er ganz genau wusste, was sie meinte. »Die Möglichkeit, dass ich es doch sein könnte.«
»Die wirkliche Gaylen?«
Pia nickte. »Nicht dass ich behaupten will, ich wäre es …Aber ich habe das Gefühl, dass du nicht gerade vor Ehrfurcht auf die Knie sinken würdest, sollte sich herausstellen, dass ich es tatsächlich bin.«
»Möchtet Ihr das denn, Erhabene?«, fragte Lion. Er gab sich nicht einmal mehr Mühe, anders als spöttisch zu klingen.
»Nein«, antwortete Pia. Im Gegenteil. Es tat gut, zur Abwechslung einmal auf einen Menschen zu treffen, der nicht vor Ehrfurcht erstarrte, wenn er ihren Namen hörte.
Oder versuchte sie umzubringen.
»Ich wundere mich nur ein bisschen, das ist alles. Immerhin halten die meisten hier diese Gaylen für so etwas wie die wiedergeborene Jungfrau Maria. Dich scheint das alles nicht sonderlich zu beeindrucken.«
»Ja, das ist wohl so«, antwortete Lion nach kurzem Zögern. »Vielleicht ist die Legende von Gaylen und Eirann wahr, vielleicht auch nicht. Es interessiert mich nicht. Dieses Land leidet seit einem Jahrtausend unter der Tyrannei Apulos, und es wird Zeit, dass die Menschen ihre Freiheit zurückbekommen. Wenn es Gaylen gibt und wenn sie uns hilft, dieses Ziel zu erreichen, so will ich alles in meiner Macht Stehende tun, um sie dabei zu unterstützen.«
»Und dabei wäre es dir gleich, ob sie nun die echte Gaylen ist oder nicht. Was zählt, ist, dass die Menschen an sie glauben, nicht wahr?«
Ter Lion antwortete genau so, wie sie es erwartet hatte: gar nicht. Allenfalls mit einem angedeuteten Lächeln, von dem sie nicht einmal sicher war, ob sie es sich nur einbildete.
Erst nach einiger Zeit sagte er: »Macht Euch keine Sorgen. Es spielt keine Rolle, wofür ich Euch halte oder was Ihr seid oder nicht. Mein Auftrag lautet, Euch zu beschützen, und das werde ich tun.«
»Ich weiß«, sagte Pia. Und auch das war ernst gemeint.
Eine geraume Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es war längst so dunkel geworden, dass selbst der Ochsenkarren kaum einen halben Steinwurf vor ihnen nicht mehr als einer von zahllosen Schatten war, der sich allenfalls von den anderen unterschied, weil er sich dann und wann bewegte und in fast regelmäßigen Abständen ein mühsames Ächzen und Knarren hören ließ. Zwei noch substanzlosere Schemen bewegten sich daneben – Alica und Nani, vermutete sie, konnte sich aber nicht einmal dessen vollkommen sicher sein –, und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, schien es mit jedem Schritt kälter zu werden, den sie sich von der Stadt entfernten. Die Nacht war sternenklar, doch obwohl es nur noch zwei Tage bis Vollmond waren, war es sehr viel dunkler, als es sein sollte. Dennoch glaubte Pia die unendliche Weite, die sie umgab, geradezu körperlich spüren zu können.
Sie fühlte sich … fremd. Abgesehen von WeißWald selbst und seinem kuscheligen Vorgarten aus menschenfressenden Bäumen kannte sie diese Welt nicht. Nichts von dem, was sie darüber gehört hatte, musste wahr sein, aber immerhin begriff sie beinahe mit jedem Schritt und trotz der nahezu vollkommenen Dunkelheit mehr und mehr, wie groß die Unterschiede zu der Welt waren, aus der Alica und sie kamen. Irgendwie hatte sie tief in sich einfach vorausgesetzt, dass WeißWald und seine Menschen und überhaupt dieses ganze Land so etwas wie ein magisches Spiegelbild der Wirklichkeit sein mussten, doch wenn das stimmte, dann hatte der Spiegel ein paar gehörige Risse. Rio de Janeiro war eine Millionenstadt, in der das Leben vielleicht auch nicht immer perfekt war, aber pulsierte wie an kaum einem anderen Ort auf der Welt, und WeißWald ein Kaff mit bestenfalls ein paar tausend Einwohnern, von denen wahrscheinlich kaum eine Handvoll tatsächlich wussten, was das Wort Leben wirklich bedeutete. Wo die vor lebendigem Grün nur so berstenden Felder und Urwälder Brasiliens sein sollten, da erstreckte sich hier eine Winterlandschaft, die seit einem Jahrtausend auf den nächsten Frühling wartete, und die freundliche Landbevölkerung schien zum allergrößten Teil aus kaum kniehohen Zwergen zu bestehen, von denen die eine Hälfte ihr am liebsten die Füße küssen würde und die andere vermutlich angestrengt darüber nachdachte, wie sie sie ihr abschneiden konnte – am besten irgendwo dicht unterhalb ihres Kinns. Und der einzige Mensch in diesem wahr gewordenen Albtraum, den sie kannte, war gar nicht der, für den sie ihn gehalten hatte … oder vielleicht doch, aber zugleich auch wieder nicht, und es war …
Auf jeden Fall ziemlich verwirrend.
»Ich erinnere Euch an jemanden, habe ich recht?«, drang Ter Lions Stimme in ihre Gedanken.
Pia schrak heftiger zusammen, als ihr lieb war, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und brachte es gerade noch fertig, sich nicht vollends zur Närrin zu machen, indem sie etwa den Kopf schüttelte. Stattdessen sagte sie: »Wie kommst du darauf?«
»Weil ich ein guter Beobachter bin«, sagte Lion ernst, »und Ihr mich ständig auf eine ganz besondere Art anstarrt.«
Pia sagte nichts dazu.
»Der Mann, an den ich Euch erinnere, muss ein sehr guter Freund von Euch sein«, fuhr Lion fort. Er war ein guter Beobachter. Vielleicht war seine Beobachtungsgabe sogar besser ausgeprägt als ihre Gefühle, dachte sie. Jesus war ein guter Freund. Vielleicht der Einzige, den sie je gehabt hatte.
»Ja«, sagte sie nur.
»Aber Ihr wollt nicht über ihn sprechen?«, vermutete Lion. Allmählich begann er ihr fast unheimlich zu werden.
»Nein«, sagte sie. »Aber über dich.«
»Über mich?« Lion wirkte ehrlich überrascht. »Da gibt es nicht viel Interessantes zu erzählen. Ich bin nur ein einfacher Mann, der tut, was man ihm aufgetragen hat.«
»Immerhin bist du ziemlich groß«, sagte Pia und legte demonstrativ den Kopf in den Nacken, um in sein Gesicht zu sehen.
»Ja, das ist wahr«, sagte Lion. »Wenn auch vielleicht nur in diesem Teil des Landes.«
»Nur in diesem Teil des Landes?«
»Die Menschen hier sind klein.«
»Ja, das ist mir aufgefallen«, sagte Pia amüsiert. »Du willst damit sagen, dass sie nicht überall so klein sind?«