»Bei Kronn, natürlich nicht«, antwortete Lion lachend. Seine linke Hand landete mit einem klatschenden Laut auf dem bronzefarbenen Harnisch, der zu seiner Rüstung gehörte. »Was glaubt Ihr, woher ich das habe? Aber Ihr habt recht: Ich gehöre selbst in meiner Heimat nicht unbedingt zu den kleinsten Männern.«
»Und wo ist deine Heimat?«
Ter Lion machte eine ausholende Geste. »Hier.«
»Aha.«
»Nein, das war kein Scherz«, sagte Lion. Ihr hilfloser Blick war ihm nicht entgangen. »Würde ich es wagen, Scherze mit jemandem wie Euch zu treiben?«
»Niemals«, sagte Pia ernst.
»Seht Ihr?«, bestätigte Lion ebenso ernst. Nur das spöttische Funkeln verschwand nicht aus seinen Augen. Er wiederholte seine Geste, die überall und nirgends zugleich hinzudeuten schien. »Das alles hier ist unsere Heimat. So weit Euer Auge reicht. Und noch ein gutes Stück weiter.«
Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Pia begriff, was er meinte. »Ihr seid Nomaden«, vermutete sie.
Das Wort schien Lion nichts zu sagen.
»Ihr habt keine Heimat«, erklärte sie. »Keinen Ort, an dem ihr dauerhaft lebt, meine ich.«
»Das ist richtig«, bestätigte er. »Ich bin der Ter meiner Sippe. Vor mir war es mein Vater, und nach mir wird es mein Sohn sein … wenn ich irgendwann die richtige Frau treffe, die mir einen Sohn schenkt, heißt das.«
Pia musste sich nicht anstrengen, um Überraschung zu heucheln. »Du willst mir nicht wirklich weismachen, dass ein Mann wie du keine Frau findet«, sagte sie.
Lion machte zwar ein geschmeicheltes Gesicht, schüttelte aber noch einmal den Kopf. »Es liegt weniger am Können als am Wollen«, sagte er. »Bisher ist mir noch nicht die Richtige begegnet … und wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre, dann müsste ich wohl zugeben, dass ich auch noch nicht wirklich danach gesucht habe. Die Stellung eines Ter lässt einem Mann nicht viel Zeit für private Dinge.«
»Du klingst nicht so, als wärst du besonders unglücklich darüber.« Pia wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort und bekam auch jetzt wieder nur dieses sonderbare Lächeln. Vielleicht ging sie einfach zu weit, und vielleicht verleitete sie seine schon fast unheimliche Ähnlichkeit mit Jesus (ein Teil von ihr beharrte immer noch darauf, dass er es war, basta) dazu, mehr Vertraulichkeit von ihm zu erwarten, als ihr zustand.
Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Ganz gleich, wie bekannt und vertraut er ihr auch vorkommen mochte, für ihn war sie eine Fremde. Wie kam sie also auf die Idee, dass er mit ihr über derart intime Dinge reden wollte?
Weil ein Teil von dir es will, flüsterte eine Stimme in ihren Gedanken. Mach dir nichts vor. Er ist Jesus. Genau der Jesus, den du dir insgeheim immer gewünscht hast.
Sie verscheuchte auch diesen Gedanken.
»Dieses Wort«, knüpfte sie ein wenig unbeholfen an ihre eigene Frage an. »Ter … Es bedeutet Anführer?«
»Fast«, antwortete er. »Lasst das ›An‹ weg … auch wenn es nicht einmal ganz falsch ist. Wir haben keinen Anführer. Der Ter kennt die Wege und geheimen Pfade. Er weiß, wo die Wasserstellen sind und die Furten über die Flüsse, und er gibt Ratschläge oder warnt. Aber niemand sagt der Herde, wo sie hingehen soll. Wir folgen den Tieren, nicht sie uns, und es wäre auch fatal, wäre es andersherum.«
»Wieso?«
Lion lächelte, als hätte sie eine ziemlich dumme, wenngleich auch verständliche Frage gestellt. »Diese Tiere leben hier, seit sich die Sonne das erste Mal über die Berge erhoben hat«, sagte er. »Wie könnten wir uns anmaßen, dieses Land besser zu kennen als sie?«
»Aber ihr führt sie von Stadt zu Stadt«, gab Pia zu bedenken. »Und dort werden sie geschlachtet.«
»Nur manche«, antwortete er. »Und die anderen wissen es schließlich nicht. Wir nehmen nie mehr, als die Herde verkraften kann, und wir beschützen sie im Gegenzug vor Raubtieren und bringen ihnen Futter, wenn die Winter zu hart sind. Und Ihr täuscht Euch. Wir führen sie nicht zu den Städten. Die Städte sind zu ihnen gekommen.«
Auch jetzt verging wieder eine kleine Weile, bis Pia der Sinn dieser scheinbar albernen Behauptung aufging. »Du meinst, die Menschen haben sich entlang ihrer Wanderwege angesiedelt?«
»Wer weiß? Ich war nicht dabei.« Lion lachte leise. »Aber Ihr werdet wohl recht haben. Ehrlich gesagt, ich habe noch niemals darüber nachgedacht. Eine interessante Frage.« Er maß sie mit einem Blick, als dächte er gerade über etwas ganz anderes nach, das ihm bisher auch noch nicht in den Sinn gekommen war. »Ihr stellt überhaupt eine Menge Fragen.«
»Das war schon immer mein größter Fehler«, bekannte sie seufzend.
»Zu viele Fragen zu stellen?«
»Zu neugierig zu sein. Manchmal hilft es, aber manchmal handelt man sich auch schnell eine Menge Ärger ein, wenn man seine Nase in Dinge steckt, die einen nichts angehen.« Wie zum Beispiel jetzt, dachte sie. Vielleicht wäre nichts von alledem hier passiert, wenn sie ihre Nase nicht in ein gewisses Drogengeschäft gesteckt hätte, dessen eigentliche Betreiber ziemlich humorlos auf diese Einmischung reagiert hatten. O ja, und wenn der Comandante nicht gewesen wäre …
»Eine ziemlich hübsche Nase, wenn ich das bemerken darf«, sagte Lion. Pia blinzelte verwirrt, und er fuhr mit einem Lächeln fort, in dem sie vergebens nach der auch nur winzigsten Spur von Verlegenheit suchte: »Ihr seid eine sehr schöne Frau, Gaylen, und Eure Freundin scheint genauso schön zu sein …soweit man das unter all dem Schmutz auf ihrem Gesicht beurteilen kann, heißt das. Sind alle Frauen dort so schön, wo Ihr herkommt?«
Pia war nun vollkommen perplex. Konnte es sein, dass dieser Kerl sie anbaggerte?
Und was hast du erwartet?, fuhr die lautlose Stimme in ihrem Kopf fort. Sie klang nun unüberhörbar spöttisch. Du sendest keine Signale aus, du lässt gerade Feuerwerksraketen steigen, und davon jede Menge.
»Habe ich … etwas Falsches gesagt?«, fragte Lion. »Ich wollte nicht anmaßend sein.«
»Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete Pia hastig. »Ich war nur … ein wenig überrascht, dass es dir aufgefallen ist, das ist alles.«
Und außerdem hatte er recht. Zumindest im Vergleich zu allen Frauen, die sie bisher in WeißWald gesehen hatte, brauchten Alica und sie nicht einmal für die Wahl zur Miss Universum zu kandidieren. Sie könnten sich den Preis auf der Stelle abholen.
»Ich müsste schon mit Blindheit geschlagen sein, um das nicht zu sehen«, antwortete Lion. »Aber Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«
»Die meisten«, sagte Pia – auch wenn das nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Gut, im direkten Vergleich mit den Schönheiten von WeißWald vielleicht schon. »Und viele sind noch sehr viel schöner.«
»Dann ist das eine Welt, die ich gerne einmal kennenlernen möchte«, feixte Lion.
Pia stimmte ganz automatisch in sein Grinsen ein, schüttelte aber nach einer Sekunde den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Weil die Männer dort auch so viel besser aussehen als hier?«
Pia dachte flüchtig an Esteban. »Kaum. Aber ich bin sicher, dass es dir dort nicht gefallen würde.« Sie war gar nicht einmal mehr sicher, ob esihr dort noch gefallen würde. Es war seltsam, aber eines wurde ihr genau in diesem Augenblick mit vollkommener Gewissheit klar: Sie gehörte hierher. Sie wusste so gut wie nichts von Lions Welt, und im Grunde hatte diese bisher nichts als Schrecken, Schmerz und Gefahr für sie bereitgehalten. Sie war zum Umfallen müde, jeder einzelne Knochen im Leib tat ihr weh und sie fror noch immer zum Gotterbarmen … aber siegehörte hierher.
»Weißt du, was mir gerade einfällt?«, fragte sie.
»Woher?«
»Leute wie dich gibt es bei uns auch«, fuhr sie fort. »Man nennt sie Cowboys. Oder jedenfalls hat es sie früher einmal gegeben.«
»Und was ist geschehen, dass es sie nicht mehr gibt?«
Wer stellte jetzt viele Fragen?, dachte sie spöttisch. Aber sie antwortete trotzdem. »Ein paar gibt es noch, aber nicht mehr viele. Die Welt hat sich weiterentwickelt.«