»Und jetzt ist in Eurer Welt kein Platz mehr für …« Lion suchte einen Moment lang nach dem Wort, das sie gerade benutzt hatte. »… Cowboys?«
Pia hob nur die Schultern.
Für einen Moment machte sich unbehagliche Stille zwischen ihnen breit. Das knirschende Geräusch ihrer Schritte auf dem hart gefrorenen Boden schien lauter zu werden, und die Schatten eilten plötzlich ganz ohne ihr Zutun herbei und versuchten sie in einen Mantel zu hüllen, den sie nicht tragen wollte; nicht jetzt und nicht in seiner Nähe.
Der Gedanke ließ sie lächeln. Sie verscheuchte die Schatten genauso mühelos, wie sie sie schon ein paarmal herbeigerufen hatte (und ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich tat), und machte unbewusst einen winzigen Schwenk nach rechts, sodass sie nun so dicht neben ihm herging, dass sich ihre Schultern beinahe berührten. Lion zog die linke Augenbraue hoch, und sie war nicht ganz sicher, ob sie nicht die Andeutung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln entdeckte.
Vielleicht sah sie ja auch nur, was sie sehen wollte.
»Wie weit ist es bis zu unserem Treffpunkt?«, fragte sie nach einer Weile und eigentlich nur, um die Stille nicht übermächtig werden zu lassen.
»Als wir uns getroffen haben, hätte ich gesagt, zwei Stunden«, antwortete Lion. »Jetzt denke ich eher …« Er bedachte den mühsam dahinrumpelnden Ochsenkarren mit einem langen, stirnrunzelnden Blick. »… bis Sonnenaufgang.«
Sonnenaufgang? Pia empfand fast so etwas wie Entsetzen. Ihrem subjektiven Empfinden nach war die Sonne gerade erst untergegangen.
»Wir wären schneller ohne Nani und den Wagen«, fuhr er fort. »Aber ich nehme nicht an, dass Ihr sie zurücklassen wollt?«
Pia antwortete nicht einmal darauf.
»Ja, das dachte ich mir«, seufzte Lion. »Aber es ist vielleicht auch ganz gut so. Es mag sein, dass Nani und ihre Familie Euch noch von Nutzen sein werden.«
»Und wieso?«
»Eirann«, antworte Lion. Irgendwie klang das geheimnisvoll, dachte Pia, auf eine Art, als hätte er das Wort aus keinem anderen Grund genauso betont, als sie zu beunruhigen.
»Ich dachte, dieser Eirann steht auf unserer Seite?«, fragte sie.
»Er ist ein Spitzohr«, erwiderte Lion. »Spitzohren stehen auf niemandes Seite, außer auf ihrer eigenen.« Er machte zwar ein grimmiges Gesicht, zugleich aber auch eine beruhigende Geste. »O nein, Erhabene. Ihr seid bei ihm so sicher, wie es nur geht. Man kann gegen diese Spitzohren sagen, was immer man will, aber sie stehen zu ihrem Wort. Wenn sie einmal eine Aufgabe übernommen haben, dann lassen sie sich eher in Stücke reißen, bevor sie versagen. Aber es wäre möglich, dass Ihr Euch nach einer Weile nach … menschlicher Gesellschaft sehnt. Sie sind ein eigenartiges Völkchen, diese Elfen.«
Wenn er sie damit beruhigen wollte, dann hatte er das genaue Gegenteil erreicht, dachte Pia.
Oder ganz genau das, was er gewollt hatte.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte sie nachdenklich, »dann könnte ich glatt auf den Gedanken kommen, dass Ihr eifersüchtig seid, Ter Lion.«
Und wer sagt dir, dass ich es nicht bin?, fragte sein Blick. »Auf einen Elf? Wie könnte ich das?«
Na zum Beispiel genau so, wie du es gerade tust, mein Freund, dachte sie spöttisch. »Das heißt, dass du uns nicht begleitest«, vermutete sie.
»Bis zum Tränensee«, antwortete er. »Wenn ich Euch in die Obhut des Elfen übergeben habe, ist meine Aufgabe erfüllt. Ich muss zurück zu meinem Clan. Man braucht mich dort.«
Beinahe hätte sie gesagt: Aber ich brauche dich auch!, konnte die Worte aber im letzten Moment zurückhalten. »Ja, das stimmt vermutlich.«
»Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Erhabene«, sagte Lion noch einmal. »Der Elf wird gut auf Euch achtgeben.«
»Und dann? Ich meine: Was geschieht dann mit mir … mit uns?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Lion. »Ich soll Euch zu ihm bringen, das ist alles, was man mir aufgetragen hat. Ich nehme an, er wird Euch außer Landes bringen … auf jeden Fall aber an einen Ort, wo Ihr in Sicherheit seid. Ihr seid nicht die Erste, die die Elfen unter ihren Schutz stellen.«
Das hatte jetzt ganz eindeutig zum Ziel, sie zu beruhigen, und es bewirkte auch jetzt wieder das genaue Gegenteil. Lions Worte hatten mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und ihre Beunruhigung begann allmählich zu etwas anderem und wirklich Unangenehmem zu werden – doch sie wollte jetzt nicht über Eirann reden. Wenn Lions Vermutung zutraf, dann würde sie wohl noch sehr viel mehr Zeit haben, mit dem und über den Elfenkrieger zu sprechen, als ihr lieb war.
Wieder kehrte für eine Weile Stille zwischen ihnen ein, aber diesmal eilten keine Schatten herbei, um sie einzuhüllen, und das Schweigen war nicht unangenehm, sondern von einer sehr vertrauten Art; das Schweigen zwischen Freunden, die einfach ein Stück nebeneinander hergingen und sich jeweils in der Nähe des anderen so sicher und geborgen wussten, dass es nicht notwendig war, irgendetwas zu sagen. Pia vergrößerte die Distanz zwischen ihm und sich um ein kleines Stück, nicht weil ihr seine Nähe plötzlich nicht mehr angenehm gewesen wäre (das genaue Gegenteil war der Fall), sondern um ihn noch einmal und genauer (und ganz unverhohlen) zu betrachten. Die Ähnlichkeit mit Jesus verblüffte sie noch immer, doch dann verbesserte sie sich in Gedanken. Es war keine Ähnlichkeit. Er war Jesus, ein Jesus aus einer anderen (was eigentlich? Dimension? Realität? Zeit? Traum?) Welt, der alles hatte, was sie an Jesus so gut kannte und liebte, aber auch noch mehr. Ganz plötzlich wurde ihr der Unterschied klar. Der Jesus, den sie bis jetzt gekannt hatte, war ihr Freund gewesen, vielleicht der beste und treueste Freund, der ihr im Laufe ihres Lebens begegnet war, aber dennoch nur ein Freund; etwas wie der große Bruder, den sie niemals gehabt hatte.
Dieser Jesus war ein Mann. Er hatte all das, was sie an dem anderen Jesus immer vermisst hatte, ohne es sich selbst jemals einzugestehen.
Sie spürte, wie ihr Körper auf eine Weise auf diese Erkenntnis reagierte, die ihr eigentlich peinlich sein sollte, und wunderte sich ein bisschen, dass das nicht der Fall war, sondern die angenehme Wärme in ihrem Schoß ganz im Gegenteil sogar noch angenehmer wurde, versuchte diesen Gedanken aber hastig zu verscheuchen und sich zu etwas zu zwingen, was sie wenigstens selbst für einen sachlichen Ton hielt.
»Hast du eigentlich keine Angst, Ärger mit Istvan zu bekommen, wenn er herausfindet, dass du uns geholfen hast?«
»Früher oder später mag ihm aufgehen, wer euch dabei geholfen hat, aus der Stadt zu kommen, aber mich wird er kaum verdächtigen. Warum sollte er?«
»Jemand könnte gesehen haben, wie du uns mit dem Wagen geholfen hast.«
»Dann hat er einen Mann in der Uniform seiner eigenen Soldaten gesehen«, antwortete Lion.
»Einen sehr großen Mann.«
»Was auf so ziemlich jeden zutrifft, der nicht in diesem Teil des Landes geboren ist«, erwiderte Lion. »Und selbst wenn. Ich bin der Ter meines Clans. Niemand legt sich mit den Clans an. Er könnte mich festnehmen, aber daran hätte er wenig Freude, glaub mir. Am Schluss würden wir um die Wette hungern, wenn WeißWald die Fleischlieferungen ausgehen. Das wagt er nicht, glaubt mir.« Er zog fragend die linke Augenbraue hoch. »Ist das eine Marotte von Euch? Euch ständig Sorgen um andere zu machen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Aber in letzter Zeit ist so ziemlich jeder zu Schaden gekommen, der das Pech gehabt hat, mir zu nahe zu kommen.«
»Um den einen oder anderen ist es vielleicht nicht allzu schade«, sinnierte Lion.
»Ich möchte trotzdem nicht, dass es zu einer schlechten Angewohnheit wird.«
»Dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten«, sagte Lion. »Ihr geht jedem Menschen aus dem Weg, dem Ihr nichts Schlechtes wünscht, oder Ihr sucht die Nähe Eurer Feinde. Wenn Eure Befürchtung zutrifft, dann erledigt sich das Thema nach und nach von selbst.«