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»Ja, das ist eine sehr gute Idee«, sagte Pia säuerlich. Sie hätte glatt von dem anderen Jesus stammen können.

Sie marschierten eine Stunde lang nebeneinander her, redeten über dies und das und schwiegen manchmal endlose Minuten. Pia erzählte – sehr wenig – über ihre Heimat und stellte dafür umso mehr Fragen nach der Lions, die er geduldig und in aller Ausführlichkeit beantwortete. Sie erfuhr eine Menge; vieles, das ihr so banal und vertraut erschien, dass sie sich eines leisen Gefühles der Enttäuschung nicht erwehren konnte, aber auch das eine oder andere Detail, das ihr so aufregend vorkam, dass sie sich insgeheim fragte, ob mit Lion entweder die Fantasie durchging oder er sich über sie lustig zu machen versuchte.

Am meisten interessierten sie die Geschichten, die Lion über sein Volk und das Leben der Clans zu erzählen hatte. Wie es aussah, hatten die Clans tatsächlich keine Heimat – oder die größte, die man sich nur vorstellen konnte, das kam ganz auf den Standpunkt an. Sie folgten den Rinderherden auf ihren Zügen durch das Land, die sie über Wege führten, die sie möglicherweise schon seit Jahrmillionen benutzten, und lagerten nur ein einziges Mal im Jahr für zwei Wochen am selben Fleck, um irgendein traditionelles Fest zu feiern, das von großer Bedeutung für sie zu sein schien, auch wenn Pia es nicht genau verstanden hatte, allen geduldigen Erklärungsversuchen Lions zum Trotz. Das Ergebnis, so hatte er lachend erklärt, war jedes Mal ein gewaltiger kollektiver Kater und ein noch gewaltigeres Chaos, wenn die Clans versuchten, die Herden wieder einzuholen, und erneut von ihnen als Begleiter akzeptiert wurden. Lion machte nur eine einzige beiläufige Bemerkung, was das anging, aber Pia meinte trotzdem nach und nach aus seinen Worten herauszuhören, dass die Herden den Clans nicht im eigentlichen Sinne gehörten, sondern die Tiere eher in einer Art Symbiose mit ihnen lebten, bei denen beide Seiten ebenso viel gaben wie nahmen. Die Clans beschützten die gewaltigen Herden vor ihren natürlichen Feinden und versuchten auch schon einmal, behutsamen Einfluss auf ihren Kurs zu nehmen, um sie zu einem saftigeren Weidegrund oder einer ungefährlicheren Flusspassage zu dirigieren (was nicht immer gelang), und die Tiere ihrerseits ließen es zu, dass sich die Menschen von ihnen ernährten und dann und wann einige Tiere verkauften, um sich im Gegenzug mit Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken, die die Herde und die Natur nicht liefern konnten. Die Clans verkauften niemals sehr viele Tiere, wie Lion ausdrücklich betonte, sondern allerhöchstens ein paar Dutzend, deren Verlust die Herde kaum bemerkte. Das erklärte auch die erstaunliche Anzahl an Karawanen, die sich vor den Toren der Stadt eingefunden hatte. Pia hatte im ersten Moment geglaubt, sich geirrt zu haben, als sie Tausende von Tieren zu sehen meinte, aber wahrscheinlich hatte sie die Anzahl eher zu niedrig angesetzt. Es mussten mindestens ein Dutzend unterschiedlicher Clans sein, die sich vor den Toren von WeißWald versammelt hatten, und aus jeder Herde wurden tatsächlich nur einige wenige Tiere verkauft. Ökonomisch wahrscheinlich eine glatte Katastrophe, aber die Naturschützer hätten ihre reine Freude an diesem Modell gehabt. Und es schien zu funktionieren. Nach Lions Aussage wurden die Herden von Jahr zu Jahr größer.

»Ja, das klingt nach einer guten Idee«, seufzte Pia. »Schade, dass bei uns niemand so denkt.«

»Es gibt bei Euch keine Clans?« Lion klang beinahe ungläubig.

»Irgendwo in der äußeren Mongolei vielleicht«, seufzte Pia. Lion sah nur noch verwirrter aus, und Pia lächelte schmerzlich und antwortete etwas ernster: »Früher gab es sie einmal.«

»So große wie hier?«

»Größer«, behauptete Pia. »Angeblich waren es so viele, dass sie das Land von einem Horizont zum anderen bedeckt haben und man eine Herde einen ganzen Tag an sich vorüberziehen sehen konnte, ohne dass ihr Ende auch nur in Sicht kam.«

»Das ist groß«, sagte Lion beeindruckt. »Aber Ihr habt gesagt: früher. Was ist geschehen?«

»Wir haben sie ausgerottet.«

Lion riss ungläubig die Augen auf. »Ausgerottet? Alle?«

»Einige gibt es noch«, sagte Pia. »In ein paar Nationalparks oder Zoos. Aber die großen Herden sind verschwunden. Und sie kommen auch nicht zurück, fürchte ich.«

»Ihr habt sie alle ausgerottet?«, fragte Lion noch einmal. »Aber warum denn? Ist euer Volk so groß, dass ihr so viel Fleisch braucht?«

»Um das Fleisch ging es nicht«, antwortete Pia, »oder jedenfalls nur am Rande. Sie wollten ihre Felle. Das Fleisch haben sie den Geiern überlassen. Aber ich schätze, nicht mal die haben es geschafft.«

Lion sah sie nur noch zweifelnder an. »Ihr macht Euch über mich lustig. Kein Volk wäre so dumm.«

»Du würdest dich wundern, wie dumm ein Volk sein kann«, antwortete Pia.

»Wenn das wahr ist, dann muss Eure Heimat wirklich sehr … sonderbar sein.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du ein anderes Wort im Sinn hattest«, antwortete Pia amüsiert. »Und du hättest recht damit. Ich könnte dir ein paar Geschichten erzählen, die du bestimmt noch viel weniger glaubst. Aber lassen wir das.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wo wir schon bei traurigen Geschichten sind: Mir fallen gleich die Füße ab, und mein Rücken dürfte in wenigen Minuten einfach durchbrechen. Ist es noch weit?«

»Wir sind erst seit drei Stunden unterwegs«, sagte Lion leicht verwundert.

»Das letzte Mal, dass ich drei Stunden am Stück unterwegs gewesen bin, habe ich in einem Flugzeug gesessen«, sagte Pia, erntete den erwarteten verständnislosen Blick und fügte hinzu: »Ich bin es nicht gewohnt, so weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Und die letzten Tage waren jedenfalls ziemlich anstrengend.«

Lion sah ganz so aus, als wollte er eine Diskussion über die genaue Definition des Begriffs weite Strecken mit ihr beginnen, aber dann hob er stattdessen die Schultern und nickte; wenn auch wenig begeistert. »Wir können eine Rast einlegen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind wir weit genug von der Stadt entfernt, um es zu riskieren. Dort hinten ist ein kleines Wäldchen. Schafft Ihr es noch bis dahin?«

Pia sah eine Sekunde lang in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies, erkannte dort nichts als Dunkelheit und zuckte die Achseln. »Ich denke schon. Und wenn nicht, dann habe ich ja einen großen, starken Beschützer, der mich im Notfall trägt, nicht wahr?«

»Wenn Ihr es wünscht, Erhabene.« Lion nickte vollkommen ungerührt und eilte voraus, um mit Nani zu sprechen. Pia ließ ganz bewusst noch einige Augenblicke verstreichen, bevor sie ihm folgte und zu Alica aufschloss.

Der Empfang war ganz genau so, wie sie es erwartet hatte. »Oh, schau an«, sagte Alica schnippisch. »Euer Durchlaucht geben dem gemeinen Volk auch einmal die Ehre.«

»Gemein trifft es ganz gut«, antwortete Pia. »Gibt es sonst noch irgendwelche Neuigkeiten, die ich wissen müsste?«

»Jede Menge«, antwortete Alica. »Ich hatte eine lange und wirklich interessante Konversation mit einer ganz reizenden älteren Dame. Das Problem ist nur, dass ich kein Wort verstanden habe, aber ansonsten habe ich mich ausgezeichnet unterhalten. Danke der Nachfrage.«

»He, jetzt reg dich wieder ab«, sagte Pia besänftigend. »Ich dachte, dir wäre auch daran gelegen, ein paar Informationen zu bekommen.«

»Informationen worüber?«

»Über alles hier. Wer Ter Lion ist und wohin er uns bringt, zum Beispiel.« Sie berichtete Alica ausführlich, was sie von Lion erfahren hatte, und zu ihrer Überraschung versuchte sie nicht ein einziges Mal, sie zu unterbrechen oder auch nur eine boshafte Bemerkung beizusteuern. Aber sie blickte sie noch immer genauso missmutig an wie zuvor, als Pia zu Ende gekommen war.

»Das heißt, wir sind von einem waschechten Cowboy gerettet worden«, sagte Alica. »Ich bin beeindruckt. Sind wir jetzt richtige Squaws? Wenn ja, dann muss ich mir unbedingt eine Adlerfeder suchen und sie mir ins Haar stecken.« Sie funkelte sie an. »Und über diesen Elf hat er nichts weiter gesagt?«

»Nicht mehr, als ich dir erzählt habe«, antwortete Pia. »Ich glaube, sehr viel mehr weiß er auch nicht.«