»Ich wusste, dass du kommst«, sagte Lion.
XXIX
Eigentlich war es ungewöhnlich – wenn sie es recht bedachte, war es ihr noch nie passiert –, aber sie musste wohl eingeschlafen sein, denn als die Explosion aus purer Lust und verzehrendem Feuer in ihrem Leib nach und nach verebbt war und sie wieder atmen konnte, ohne dabei vor Wonne abwechselnd zu stöhnen und zu schnurren wie eine zufriedene Katze, fand sie sich zwar unversehens auf dem Rücken und dem kalten Waldboden liegend wieder, aber in der Beuge seines muskulösen rechten Arms, und sein zwar enormes, doch so unendlich süßes Gewicht lastete nicht mehr auf ihr.
Lion lag neben ihr. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein sehr entspannter Ausdruck ab. Sein Atem, den sie gerade so heiß und keuchend an ihrer Wange gespürt hatte, ging jetzt sehr gleichmäßig und flach, aber irgendwie spürte sie, dass er nicht schlief.
»Hör auf zu schauspielern«, sagte Pia und strich ihm zärtlich über die Wange. »Das kannst du nicht besonders gut.«
Lion hob die Lider und sah sie an, ohne dass sich in seinem Gesicht auch nur ein Muskel gerührt hätte. In seinen Augen war nichts als Zärtlichkeit. »Ich schauspielere nicht«, sagte er. »Ich wollte dich nicht wecken, das ist alles. Du hast so tief geschlafen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte sie.
»Weil du geschnarcht hast.«
»Ich schnarche nicht!«, antwortete Pia empört.
»Tust du doch«, beharrte Lion. »Aber keine Sorge. Ich finde, es klingt süß.«
»Das ist gelogen!«
»Was? Dass es süß klingt? Also, sagen wir … ja«, gestand Lion. »Ich weiß nicht, was ich in zehn Jahren dazu sagen werde, oder in zwanzig … aber noch gefällt es mir.«
»In zehn Jahren?« Pia runzelte übertrieben die Stirn, stemmte sich auf den rechten Ellbogen hoch und brachte ihr Gesicht noch näher an seines heran. »Nur damit es jetzt nicht zu einem grässlichen Missverständnis kommt, Ter Lion. Es gibt da nicht irgendwelche mir unbekannten Riten oder Bräuche? Ich meine, wir haben nicht gerade geheiratet oder uns die ewige Treue geschworen oder so was?«
»Geheiratet?« Lion riss fast entsetzt die Augen auf. »Aber ich habe Euch doch gesagt, dass ich auf die Richtige warte, Erhabene!«
Pia starrte ihn eine Sekunde aus aufgerissenen Augen an, japste in gespielter Wut und rollte sich dann auf ihn, um ein halbes Dutzend Mal schnell (und ziemlich hart) mit den Fäusten auf seine Brust zu trommeln.
»Du verdammter Schuft!«, rief sie mit gespielter Empörung. »Und ich habe Euch für einen Ehrenmann gehalten, Ter Lion! Aber Ihr habt die Gelegenheit offensichtlich nur schamlos ausgenutzt, um Euch das Vertrauen einer ehrbaren Jungfrau zu erschleichen, und …«
»Also, das bezweifle ich, Erhabene.«
Pia kniff misstrauisch das linke Auge zu. »Was? Die Jungfrau oder das ehrbar?« Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern trommelte weiter mit den Fäusten auf seine Brust ein. Lion ließ sie ein paar Augenblicke gewähren, dann hielt er ihre Handgelenke mit nur einer Hand fest und legte die andere auf ihren Rücken, wo sie für eine halbe Sekunde verharrte und dann eine Folge gleißender Explosionen in ihrem Rückgrat auslöste, als sie weiter nach unten wanderte. Pia schloss die Augen, küsste ihn zärtlich und sehr lange und spürte, dass sie nicht die Einzige war, die ihr Pulver offensichtlich noch nicht ganz verschossen hatte.
»Ich fürchte, uns bleibt nicht mehr genug Zeit, um diese Angelegenheit in der gebührenden Ausführlichkeit zu Ende zu besprechen, Ter Lion«, flüsterte sie. Ihr Atem ging schon wieder schneller, genau wie der seine, und in ihrem Schoß wurde aus dem noch längst nicht erloschenen Funken wieder heiße Glut.
»Manchmal kann man ein Gespräch auch sehr schnell zu Ende bringen«, sagte Lion. »Wenigstens vorläufig.«
Seine Hand tat Dinge, die ihr ein bisschen unbekannt waren, aber auch alles andere als unangenehm.
Nicht dass sie es selbst verstand … aber die Vernunft siegte.
»Das geht jetzt nicht«, sagte sie. »So leid es mir tut. Wir holen es nach, das verspreche ich dir, aber jetzt sollten wir zu den anderen zurückgehen.« Mit einer noch viel größeren Willensanstrengung streifte sie seine Hand ab, setzte sich auf und begriff in der gleichen Sekunde und nicht nur wegen seines breiter werdenden Grinsens, dass das vielleicht auch nicht wirklich clever gewesen war.
Woher sie die Willensstärke nahm, trotzdem noch einmal den Kopf zu schütteln und schließlich sogar aufzustehen, war ihr selbst ein Rätsel.
»Lass uns zurückgehen«, sagte sie.
Wenn er enttäuscht war, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken – was sie ihm allerdings fast schon wieder ein bisschen übel nahm.
»Ganz wie Ihr befehlt, Erhabene«, sagte er, richtete sich auf beide Ellbogen hoch und fuhr fort: »Wahrscheinlich machen sie sich ohnehin schon Sorgen um uns. Eure Freundin sieht jedenfalls nicht sehr begeistert aus.«
Pia fuhr wie von der berühmten Tarantel gestochen herum und konnte selbst spüren, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, als sie Alica nur einen halben Steinwurf entfernt entdeckte.
Sie stand hinter einem Busch, der nicht einmal als symbolisches Versteck durchgegangen wäre, und Pia konnte trotz der Dunkelheit und der Entfernung den vorwurfsvollen Ausdruck in ihren Augen erkennen. Eine geschlagene Sekunde lang starrte sie sie einfach nur an, dann spürte sie, wie die Blässe ihrer Wangen einer mindestens genauso intensiven Schamesröte wich, trat mit einem schnellen Schritt von Lion herunter und bückte sich gleichzeitig nach ihrem Kleid. Kaum hatte sie es berührt, da spürte sie wieder, wie grausam kalt es war. Das Feuer, das sie bisher gewärmt hatte, brannte noch immer in ihr, aber sie begann nun trotzdem die äußere Kälte zu spüren, ließ das Kleid fallen und hob stattdessen den Umhang auf, den sie sich überstreifte, während sie auf Alica zuging.
»Na, hast du auch alles gesehen?«, fragte sie spröde.
»Es war nicht ganz uninteressant«, antwortete Alica kalt. »Wenn auch vielleicht ein bisschen bieder.«
Diesmal war die Hitze, die ihr ins Gesicht schoss, Zorn, nicht nur Scham. »Was suchst du hier?«, fauchte sie. »Wie hast du uns überhaupt gefunden?«
»Also, ihr wart nun wirklich laut genug«, antwortete Alica.
Laut genug? Pia kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und kam dann zu dem Schluss, dass Alica wahrscheinlich recht hatte. »Du spionierst mir also nach«, sagte sie wütend. »Ja, das hätte ich mir eigentlich denken können.«
Warum sie das sagte, wusste sie selbst nicht genau, aber Alica schien es gar nicht gehört zu haben.
»Oh, entschuldige bitte!«, fauchte sie.« Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, weil du nicht zurückgekommen bist! Aber das wird bestimmt nicht noch einmal passieren! Ich konnte ja nicht wissen, dass du dich dem erstbesten Kerl an den Hals wirfst, der dir über den Weg läuft!« Etwas in ihrem Blick änderte sich und war jetzt einfach nur noch böse. »Dabei hätte ich es mir eigentlich denken können. Man muss ja in deinem Namen eigentlich nur zwei Buchstaben umstellen, nicht wahr, Prinzessin Gaylen?«
Pia beherrschte sich mit aller Kraft. Alica wollte sie provozieren, das hatte sie begriffen, wenn auch noch nicht wirklich, warum.
»Also gut, du hast deinen Auftritt gehabt, du hast mich in eine peinliche Situation gebracht, und jetzt ist es gut. Können wir dann gehen?«
»Und ich dachte, du wärst meine Freundin«, antwortete Alica mit einer Bitterkeit, die Pia noch viel weniger verstand.
»Bist du jetzt fertig?«
»Ja«, antwortete Alica. Dann runzelte sie die Stirn, machte ein überraschtes Gesicht und fuhr in verändertem Ton fort: »Obwohl ich dich beinahe verstehen kann.«
Pia sah sie einen halben Atemzug lang vollkommen verständnislos an, drehte sich dann herum und glaubte ein bisschen besser zu begreifen. Lion war aufgestanden, und er war genauso nackt, wie sie es vor einer Minute gewesen war. Er bückte sich ohne sichtbare Hast nach seiner Hose, hielt sie sich nachlässig vor den Leib und kam mit einem gespielt verlegenen Lächeln auf sie zu, und aus der Dunkelheit hinter ihm kam eine kurzstielige Axt geflogen, überschlug sich zweimal in der Luft und grub sich mit einem knirschenden Laut wuchtig genug in seinen Hinterkopf, um seinen Schädel zu spalten und erst stecken zu bleiben, als die bronzefarbene Klinge zwei Fingerbreit über seiner Nasenwurzel wieder zum Vorschein kam; wie der Stachelkamm eines grotesken Echsenmenschen aus einem noch groteskeren Comic.