Lion gefror mitten in der Bewegung. Die Wucht der geschleuderten Axt hatte ihn halb nach vorn gerissen und in einer ebenso unmöglich-grotesken Haltung wieder erstarren lassen. Blut – erstaunlich wenig Blut – lief rechts und links der bronzenen Axtschneide über sein Gesicht, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck absoluten Erstaunens.
Dann starb er und sackte zusammen, und rings um sie herum brach die Hölle los.
Alica begann zu schreien. Schatten explodierten aus dem Wald und waren plötzlich überall, und es stank nach Blut und Tod. Metall blitzte, und Pia hörte ein ekelhaftes Geräusch, wie von rasiermesserscharfem, schartigem Stahl, der aus einer Scheide gezogen wurde.
Eine der bärtigen Gestalten packte sie bei den Schultern und schleuderte sie zu Boden, und die Berührung brach den Bann, der sie bisher in seinem lähmenden Griff gehabt hatte. Sie schlug schwer auf den Rücken, spürte einen betäubenden Schmerz durch ihre Hüften schießen und sah, wie sich der Angreifer auf sie stürzen wollte und dann vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde zögerte, als ihr Mantel auseinanderfiel und er erkannte, dass sie darunter nackt war.
Sein Zögern kostete ihn das Leben. Pia reagierte ganz ohne ihr eigenes Zutun, zog beide Knie an den Leib und stieß die Beine dann gerade und mit aller Gewalt, die sie aufbringen konnte, nach oben. Ihre Fersen krachten in sein unteres Rippenpaar und brachen es. Der Kerl klappte japsend zusammen, und Pia rollte sich herum und auf die Knie und rammte den Ellbogen nach hinten, als er neben ihr auf die Knie sank. Sie traf seinen Adamsapfel und zertrümmerte ihn. Dann war sie mit einer einzigen fließenden Bewegung auf den Beinen und hinter einem zweiten langhaarigen und bärtigen Angreifer, der Alica gepackt hatte und sie mit wenig Erfolg festzuhalten versuchte, schmiegte die Hände um seinen Hinterkopf und sein Kinn und brach ihm mit einer einzigen kraftvollen Bewegung das Genick. Noch während er lautlos zu Boden sank, fuhr sie herum und hielt mit halb erhobenen Händen nach einem weiteren Opfer Ausschau, das sie packen und töten konnte.
Es gab keines. Die beiden Angreifer waren die einzigen gewesen. Alica und sie waren allein.
Sekundenlang stand sie einfach nur da, suchte nach … irgendetwas, das sie packen und zerreißen konnte, und atmete in dieser Zeit nicht einmal, geschweige denn, dass in ihrem Geist Platz für einen bewussten Gedanken gewesen wäre. Da war nur der absolute Wille zu töten, irgendetwas oder irgendjemanden. Es war wie die flüsternde Wut, mit der sie die Berührung des magischen Schwertes erfüllt hatte, nur schlimmer, tausendmal schlimmer und erbarmungsloser.
Etwas berührte sie an der Schulter, sacht, beinahe ängstlich, und Pia fuhr herum, riss die Hände noch weiter in die Höhe und ließ sie dann wieder sinken, als sie Alica erkannte. Und der Anblick ihres schreckensbleichen Gesichtes bewirkte noch etwas anderes. Das verzehrende Feuer in Pia erlosch und an seine Stelle trat Leere, so gewaltig und still, dass sie im ersten Moment nicht einmal mehr Platz für den Schmerz ließ, der doch eigentlich jetzt kommen sollte.
»Ist … alles in Ordnung?«, fragte Alica. »Mit dir, meine ich?« Ihre Augen waren groß und schwarz vor Furcht; auch wenn Pia das Gefühl hatte, dass diese Furcht vielleicht einen anderen Grund haben mochte, als sie annahm. Sie hätte nicht einmal antworten können, wenn sie es gewollt hätte.
Wortlos drehte sie sich herum, ließ ihren Blick über die beiden toten Männer schweifen und stellte fest, dass der, der sie attackiert hatte, noch nicht ganz tot war. Er lag auf dem Rücken, hatte beide Hände um den Hals gekrampft und erstickte qualvoll und langsam. Tief in ihr war das Wissen, dass sie ihn – vielleicht – hätte retten können, wenn sie es wirklich gewollt hätte, dass es gewisse Dinge gab, die sie hätte tun können, wäre da auch nur ein Funke von Mitgefühl in ihr gewesen. Doch da war keiner, und hätte es ihn gegeben, so hätte sie ihn sofort gelöscht.
Schweigend und vollkommen regungslos wartete sie ab, bis der Mann erstickt war, dann wandte sie sich um und ging zu Lion.
Er war auf die Seite gerollt, unter seinem Kopf eine immer noch größer werdende Blutlache, die der hart gefrorene Boden nicht aufnehmen konnte und die in der Kälte dampfte. Trotz der grauenhaften Wunde lag ein sonderbar friedlicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Axt hatte seinen Schädel nahezu gespalten, aber er sah dennoch aus, als wäre er nur eingedämmert und schliefe einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Langsam ließ Pia sich neben ihm auf die Knie sinken, streckte die Hand aus und berührte seine Wange mit den Fingerspitzen. Seine Haut war noch warm, dieselbe Wärme, die sie gerade auf ihrer Haut gespürt hatte, aber sie konnte auch fühlen, wie dieses bisschen Wärme bereits wich, Opfer derselben grausamen Kälte wurde, die diese ganze Welt in ihrem erbarmungslosen Griff hatte und am Ende auch über sie und alle anderen obsiegen würde.
So würde es enden, begriff sie, für sie, für Alica und Nani und Brack und alle anderen hier. Vielleicht in einem kurzen Moment voller explodierender Furcht und Schmerzen, vielleicht erst nach vielen Jahren und einem vermeintlich friedvollen Leben, aber am Ende würden Kälte und Stille den Sieg davontragen, ganz gleich, wie sehr sie sich auch dagegen wehrten. Wozu diesen Kampf also überhaupt aufnehmen, wenn sie ihn doch nicht gewinnen konnte?
»Es … es tut mir so unendlich leid«, flüsterte Alica hinter ihr. Ihre Stimme bebte, und als Pia zu ihr aufblickte, sah sie Tränen über ihr Gericht laufen. Sie sollte diese Tränen weinen, dachte sie. Der Kummer, den sie auf Alicas Gesicht sah, sollte der ihre sein. Aber sie empfand nichts. Oder doch: Da war etwas, tief, unendlich tief in ihr, ein schwarzer Schlund noch unter der Leere, die ihre Seele erfüllte, und irgendetwas lauerte darin. Sie wusste nicht, was es war, und sie betete darum, es auch niemals wirklich kennenzulernen, denn es war durch und durch schrecklich und würde vielleicht auch sie selbst zerstören, wenn es irgendwann einmal Gestalt annahm.
Sie lächelte, um Alica Trost zu spenden, den doch eigentlich sie ihr zusprechen sollte, dann beugte sie sich noch einmal vor und küsste Lions erkaltende Lippen. Noch immer schweigend stand sie auf, ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten und bückte sich stattdessen nach ihrem Kleid, um es überzustreifen. Selbst der dicke Stoff bot kaum merklichen Schutz vor der Kälte, die mit jeder Sekunde schlimmer zu werden schien. Pia legte den Mantel wieder an, schlug die Kapuze hoch und drehte sich zu Alica um.
»Gehen wir. Die anderen warten sicher schon.«
Alica rührte sich nicht, aber in ihren Augen glomm eine neue Art von Entsetzen auf, das eindeutig ihr galt, nicht dem, was hier passiert war. Trotzdem sagte sie: »Was ich gerade gesagt habe, über dich und Lion, das … das tut mir leid. Ich habe das nicht so gemeint, bitte glaub mir.«
»Ich weiß«, antwortete Pia. Die Kälte in ihrer Stimme erschreckte sie beinahe selbst. Oder hätte es tun sollen. »Können wir?«
Alica zwang sich zu einem abgehackten Nicken und wandte sich mit einem Ruck ab. Aus dem Wald hinter ihr drang ein gellender Schrei.
Pia war mit einem einzigen Satz an ihr vorbei und schon halb im Unterholz verschwunden, noch bevor Alica auch nur ihren Schrecken überwunden hatte, und ihr Vorsprung wuchs mit jedem gewaltigen, federnden Schritt, mit dem sie auf die Quelle des Kampflärms zurannte.
Dem ersten Schrei war ein weiterer gefolgt, und mittlerweile hallte die Dunkelheit vor ihr wider von Schreien und dem Klirren von Waffen, das sie vollkommen zweifelsfrei identifizierte, obwohl sie so etwas eigentlich noch nie zuvor gehört hatte. Dort vorne tobte ein erbitterter Kampf, und es hörte sich nach weitaus mehr an als nur Nanis Familie, die sich gegen eine entsprechende Anzahl von Angreifern zur Wehr zu setzen versuchte.