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Den Bruchteil einer Sekunde, bevor er abdrückte, erschien eine in Silber und Schwarz gekleidete Gestalt wie aus dem Nichts hinter ihm.

»Gaylen!«, schrie sie. »Springt!«

Und wohin?, dachte Pia … und wieder schien alles gleichzeitig zu geschehen. Hernandez drückte nicht ab, sondern fuhr blitzartig herum und richtete seine Waffe auf den so plötzlich hinter ihm aufgetauchten Fremden, und der Schatten machte eine unvorstellbar schnelle Bewegung. Ein silberfarbener Blitz löste sich aus seiner Hand und flog in Hernandez’ Richtung, aber der Comandante machte eine noch schnellere und eigentlich ganz und gar unmögliche Bewegung und wich dem geschleuderten Blitz aus, und plötzlich raste er direkt auf Pia zu, schnell wie ein Lidzucken und absolut tödlich.

Im allerletzten Moment fuhr Jesus herum, umschlang sie mit beiden Armen und riss sie zur Seite. Der tödliche Schmerz, auf den sie wartete, kam nicht, auch wenn Jesus vor Anstrengung und Furcht ächzte und sein brutaler Griff ihre Rippen hörbar knacken ließ. Sie bekam keine Luft mehr, um zu schreien, sonst hätte sie es getan. Wieder einmal explodierte die Welt vor ihren Augen in einem Feuerwerk aus weißen und roten Blitzen, sie konnte immer noch nicht atmen, strauchelte und …

… prallte so hart gegen eine Wand aus morschem Holz und rostigem Wellblech, dass sie zwei Schritte weit zurückgeworfen wurde und mit Sicherheit gestürzt wäre, hätte Jesus sie nicht (wieder einmal) aufgefangen.

Die Wirklichkeit brach mit solcher Wucht über sie herein, dass sie abermals taumelte. Die Straße kippte nach rechts, dann nach links und schließlich mit einem magenumstülpenden Ruck wieder in die Waagerechte zurück. Etwas … war plötzlich nicht mehr da, ohne dass sie sagen konnte, was, aber sie spürte sein Fehlen so deutlich, als wäre ihr von einem Atemzug auf den anderen ein Körperteil abhanden gekommen. Dann – endlich – war es wirklich vorbei. Alles kehrte zur Normalität zurück, und sie fand sich in der finsteren Gasse wieder, in die sie geflohen waren.

»Was …?«, stammelte sie benommen. Die Welt schien sich noch immer um sie zu drehen, aber jetzt war es einfach nur Desorientierung, nicht mehr das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren; und das ganz eindeutig nicht im übertragenen Sinne. Der Albtraum war vorbei, wenn es denn überhaupt einer gewesen war.

Jesus grunzte eine Antwort, die sie nicht verstand, legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie herum, um sie wieder zum Anfang der Gasse zu bugsieren, aber seine Kraft reichte nur noch für einen einzigen Schritt. Er begann zu zittern, taumelte und kippte plötzlich kraftlos zur Seite. Pia roch Blut und sie spürte seinen Schmerz wie ihren eigenen; eine glühende Flamme, die sich tief in ihren Leib fraß. Dann brach er endgültig zusammen.

Pia versuchte ihn aufzufangen, aber natürlich war er viel zu schwer für sie. Sein Gewicht riss sie mit zu Boden. Sie fiel nicht wirklich, sondern sank ungeschickt auf die Knie herab, und Jesus stürzte mit einem seufzenden Laut neben ihr zu Boden.

»Jesus?!«, stieß sie erschrocken hervor. »Jesus, was ist los mit dir?«

Jesus antwortete nicht, konnte es wahrscheinlich auch gar nicht. Er rollte auf den Rücken und verdrehte die Augen.

Blasiger Schaum erschien auf seinen Lippen und färbte sich im farbenverzehrenden Licht der Nacht rosa. Seine Jacke fiel auseinander und bildete ein schmutzig graues Flügelpaar auf dem Pflaster neben ihm. Dicht unterhalb seines rechten Rippenbogens ragte der ziselierte Silbergriff eines Dolches aus seinem Leib.

IV

Wenn es in ihrem Leben – abgesehen von Jesus – überhaupt jemanden gab, den Pia als so etwas wie ihre Familie bezeichnet hätte, dann war es Esteban. Sie kannte ihn, so lange sie lebte. Ihre ersten Erinnerungen hatten fast ausschließlich mit ihm zu tun, ein großer, schon damals leicht übergewichtiger Mann. Heute war er um die fünfzig, was bedeutete, dass er jetzt tatsächlich ungefähr so alt war, wie er ihr damals vorgekommen war – und somit nicht viel älter gewesen sein konnte als sie heute –, als er sich des halb verhungerten Waisenkindes annahm, das man zu ihm gebracht hatte. Sein Gewicht hatte er nahezu verdoppelt und er gehörte zweifellos zu den einflussreichsten Männer der Favelas; auch wenn er sich zeit seines Lebens geweigert hatte, sich einer der zahllosen mehr oder weniger großen (und ausnahmslos gefährlichen) Banden anzuschließen oder einer der vier großen Familien, die ihrerseits über die unterschiedlichen Banden herrschten. Esteban war ganz zweifellos ein Patrono, aber der einzige Patrono, der eigentlich keine Untertanen hatte, über die er herrschen konnte, und – wenn man es ganz genau nahm – nicht einmal eine richtige Familie. Pias erste Erinnerungen an ihn waren deshalb auch die an seine unterschiedlichen Frauen, die ihr damals ebenfalls alt erschienen waren. Aber es waren eben die Erinnerungen einer Vierjährigen, und mittlerweile hatte sie nicht nur verstanden, dass Esteban niemals länger als ein Jahr mit ein und derselben Frau zusammenlebte, sondern näherte sich auch selbst dem Alter, in dem seine jeweiligen Partnerinnen gut ihre Schwestern sein könnten; auch ihre jüngeren. Es gab Zeiten, in denen er mit mehr als einer Frau gleichzeitig zusammenlebte, aber auch noch eine weitere, deutlich dunkle Seite an ihm, von der jedermann wusste und Pia gar nichts wissen wollte. Ihr gegenüber hatte er sich immer wie eine Mischung aus großem Bruder und Vater benommen, selbst als sie allmählich in ein Alter kam, in dem sie durchaus in sein Beuteschema gepasst hätte. Viele der Frauen, die sie an seiner Seite kennengelernt hatte, ähnelten ihr sogar, und wahrscheinlich war auch das kein Zufall.

Im Augenblick sah er allerdings eher aus wie ein überaus verärgerter Vater, wie er so hinter seinem zerschrammten Schreibtisch saß und abwechselnd sie und das altmodische schwarze Telefon anblickte; fast, als warte er auf einen Anruf, der ihm mitteilte, was er weiter mit ihr tun sollte.

Vielleicht war es auch so, dachte Pia niedergeschlagen. Sie hatte fast die gesamte Zeit, seit sie hergekommen war, im Zimmer nebenan bei Jesus und dem Arzt verbracht, aber die Wände hier waren dünn. Esteban hatte viel telefoniert, und er hatte sich dabei ein paarmal ziemlich aufgeregt angehört.

»Ich frage mich wirklich, was ich jetzt mit dir tun soll«, seufzte er schließlich. Pia saß seit gut fünf Minuten auf dem Arme-Sünder-Stuhl vor seinem Schreibtisch, und es waren die ersten Worte, die er seither gesprochen hatte. Sie hätte erleichtert sein sollen, dass die unangenehme Stille vorüber war – aber der Letzte, der diese Worte zu ihr gesagt hatte, war Hernandez gewesen, und die Erinnerung daran gab ihnen einen unangenehmen Beigeschmack. Sie schwieg.

»Es war ziemlich dumm von dir, hierherzukommen. Ich hoffe, wenigstens das ist dir klar«, fuhr er fort, nachdem er lange genug gewartet hatte, um das Schweigen zwischen ihnen schon wieder unangenehm werden zu lassen.

»Ich weiß«, antwortete sie kleinlaut. »Ich wusste einfach nicht, wohin. Und ich wollte dir bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten, aber …«

»Schwierigkeiten?«, unterbrach sie Esteban. »Wie kommst du auf diese Idee? Nicht einmal die Peraltas sind so dumm zu glauben, dass ich irgendetwas mit dieser Sache zu tun habe.«

»Die Peraltas?« Pia erschrak. »Aber was … was haben denn die Peraltas mit …?«

Esteban unterbrach sie mit einem neuerlichen Kopfschütteln, maß sie mit einem sehr langen, ein wenig traurigen Blick und beugte sich dann nach rechts, um den Leinenbeutel aufzuheben. Der mindestens fünfzig Jahre alte hölzerne Bürostuhl, in dem er saß, ächzte protestierend unter der plötzlichen Verlagerung von mehr als zwei Zentnern Gewicht, und Pia musste an ein anderes zerbrochenes Möbelstück denken.