»Was die Peraltas damit zu tun haben?« Esteban ließ den Beutel übertrieben wuchtig auf die Schreibtischplatte fallen. Das Telefon hüpfte. »Was glaubst du denn, wem das Zeug hier gehört?«
Pia starrte den Beutel an. Sie schwieg. Es hätte auch nicht viel gegeben, was sie hätte sagen können. Die Peraltas? Großer Gott!
»Wie gesagt: Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt wütend oder enttäuscht sein soll. Ich dachte, ich hätte dir mehr beigebracht. Weißt du, Pia, wenn du schon jemanden bestiehlst, dann solltest du dich vorher wenigstens erkundigen, wen. Ich dachte wirklich, ich hätte dir das beigebracht.«
»Das … das hast du auch«, antwortete sie, noch immer wie betäubt. Die Peraltas? Nein, nicht ausgerechnet sie. Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Und sie hatte geglaubt, sich Probleme einzuhandeln, weil sie sich mit Hernandez und seinen Schlägern angelegt hatte? »Aber ich wusste nicht, dass …«
»Eben!« Esteban schlug heftig mit der flachen Hand auf den Tisch, und das Telefon machte einen zweiten und noch heftigeren Hüpfer. »Du wusstest es nicht! Aber du hättest es wissen müssen! Verdammt, wenn man schon eine Million klaut, sollte man sich vorher erkundigen, wem sie gehört!«
»Aber ich wusste es wirklich nicht!«, verteidigte sich Pia. Sie hasste sich beinahe selbst für den weinerlichen Klang ihrer Stimme, konnte aber nichts dagegen tun, und ihr war zum Heulen zumute. Die Peraltas waren vielleicht die kleinste der vier Mafia-Familien, die sich diesen Teil der Favelas untereinander aufgeteilt hatten, aber auch die mit Abstand gefürchtetste. »Ich wusste bis jetzt nicht einmal, dass sie überhaupt mit Drogen handeln! Ich dachte immer, sie hätten ihre Prinzipien, und dieses Dreckszeug gehört nicht dazu!«
»Haben sie auch«, antwortete Esteban. Er nahm eines der weißen Päckchen aus dem Beutel, drehte es einen Moment lang unschlüssig in der Hand und warf es dann zurück. »Sie arbeiten nur als Kuriere. Aber Kuriere in diesem Gewerbe haben im Allgemeinen das Problem, dass man sie für die Ware verantwortlich macht, die sie transportieren. Sie sind nicht gerade begeistert von der Vorstellung, knappe zwei Millionen einzubüßen. Von ihrem Ruf ganz zu schweigen.«
»Wir … ich … ich könnte es ihnen zurückgeben«, sagte Pia und kam sich selbst lächerlich dabei vor.
»So läuft das nicht, Kleines, und das weißt du auch«, antwortete Esteban sanft.
Natürlich wusste sie das. Es ging nicht nur um das Geld und die Drogenpäckchen. Sie würden Jesus und sie trotzdem umbringen. Mit einer der anderen Familien hätte sie – vielleicht – reden und irgendeine Lösung finden können, aber mit den Peraltas?
»Woher … weißt du überhaupt davon?«, fragte sie stockend. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, dass sie kaum noch sprechen konnte. Sie begann die Finger zu kneten und wünschte sich plötzlich, wieder acht Jahre alt zu sein und auf diesem Stuhl zu sitzen, um sich eine Gardinenpredigt von ihm anzuhören, weil sie den Nachbarsjungen verprügelt hatte.
»Du bist gut.« Esteban lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Jeder weiß davon. Schlechte Nachrichten haben Flügel, und die werden umso größer, je schlechter die Nachrichten sind. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem als von den beiden Verrückten, die irre genug gewesen sind, der Peralta-Familie eine Drogenlieferung zu klauen – und auch noch drei ihrer Leute umzulegen.«
»Das waren wir nicht!«, sagte Pia hastig.
»Das glaube ich dir«, antwortete Esteban ernst. »Du bist keine Mörderin, und Jesus ist kein Mörder. Ich fürchte nur, das wird den Peraltas ziemlich egal sein. Es geht nicht um das Geld oder die Drogen. Es ist Blut geflossen. Und sie wollen Blut sehen. Du weißt, wie das Spiel läuft. Aber …«, er hob abwehrend die Hand, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, ihm zu widersprechen, »… noch haben wir einen einzigen Vorteil. Außer Jesus und dir – und jetzt mir – weiß niemand, was wirklich passiert ist. Und solange das so bleibt, haben wir eine gute Chance, uns eine Geschichte auszudenken, an deren Ende ich nicht in die Verlegenheit komme, gutes Geld für einen Grabstein ausgeben zu müssen.«
Das würde er sowieso nicht, dachte Pia niedergeschlagen. Leute, die sich mit den Peraltas anlegten, hatten im Allgemeinen zwei Dinge gemeinsam: Sie waren ziemlich verrückt und sie pflegten spurlos zu verschwinden.
»Bist du sicher, dass Hernandez tot ist?«, fragte Esteban.
Die Verlockung, einfach Ja zu sagen, war groß. Sie wollte nichts lieber, als nicken und selbst daran glauben, aber sie konnte es nicht.
»Nein«, gestand sie. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er mit diesem seltsamen Kerl beschäftigt.«
»Euer geheimnisvoller Retter«, sagte Esteban. Er klang ein bisschen spöttisch, und Pia schoss einen so zornigen Blick in seine Richtung ab, dass er in einer erschrocken-abwehrenden Geste beide Hände hob. »Schon gut. Ich glaube dir ja. Und sei es nur, weil die Geschichte einfach zu verrückt klingt, um sie sich auszudenken.«
»Du meinst, so verrückt wäre nicht einmal ich, dir eine solche Geschichte aufzutischen?«, antwortete Pia. »Jesus hat ihn schließlich auch gesehen!«
»Ich sagte dir bereits, ich glaube dir«, versuchte Esteban sie zu beruhigen. »Auch wenn es mir schwerfällt … ein Irrer, der im Supermankostüm durch die Stadt läuft und für Ordnung sorgt, wo es die Polizei nicht kann oder will?« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, so was gibt es nur im Kino.«
Pia tat ihm immerhin den Gefallen, die Lippen zur Andeutung eines Lächelns zu verziehen, aber es überzeugte weder ihn noch sie. Wer immer diese seltsame Fremde gewesen war … irgendetwas sagte ihr, dass er nicht einfach ein Verrückter im Supermankostüm gewesen war.
»Aber gut, das ist im Moment nicht unser Thema.« Esteban bekräftigte seine Worte mit einer Handbewegung, wie um sie im wahrsten Sinne des Wortes beiseitezuwischen. »Was ist mit Hernandez’ Männern? Du sagst, der seltsame Bursche hat sie erledigt?«
»Zwei ganz bestimmt«, antwortete Pia. »Bei dem dritten bin ich mir nicht sicher.«
Esteban begann nachdenklich mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte zu trommeln. Sein Blick suchte wieder das Telefon und verharrte für Pias Geschmack gerade einen Sekundenbruchteil zu lange darauf. »Selbst wenn nicht, wird ihnen kein Mensch die Geschichte glauben … oder vielleicht doch, aber das ist eigentlich egal. Hat euch irgendjemand auf der Baustelle gesehen?«
»Keine Ahnung«, gestand Pia. »In der Cantina bestimmt. Dafür hat der Comandante schon gesorgt.«
»Genauso wie er dafür Sorge getragen hat, dass sein Gespräch mit dir aufgezeichnet wird.« Esteban schnaubte. »Hauptmann Juan Hernandez, der aufrechte Polizist, der versucht, eine stadtbekannte Kleinkriminelle von …«
»He!«, protestierte Pia.
»… eine leichtsinnige junge Frau von einer Dummheit abzuhalten, über deren Konsequenzen sie sich anscheinend nicht im Klaren ist«, verbesserte sich Esteban. Er lächelte nicht. »Geschickt eingefädelt, das muss ich zugeben. Mit dem Überwachungsvideo von diesem fliegenden Ding und dem Revolver mit deinen Fingerabdrücken drauf wäre er möglicherweise sogar durchgekommen … aber vielleicht können wir den Spieß ja rumdrehen.«
»Und wie?«
»Ich muss einen Moment darüber nachdenken und ein paar Erkundigungen einziehen«, erwiderte Esteban, mehr an sich selbst als zu ihr gewandt. »Aber wenn man es genau nimmt, habt ihr eigentlich gar nichts getan.«
»Wir haben die Tasche geklaut«, gab Pia zu bedenken.
»Aber ihr habt niemanden erschossen«, beharrte Esteban. »Das war Hernandez. Wir wollen mal nicht zu kleinlich sein. Wer den Beutel zuerst angefasst hat, spielt im Grunde keine Rolle, oder? So wie du die Geschichte erzählst, hat er das von Anfang an so geplant.«