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»Er hat mich benutzt«, sagte Pia bitter.

Esteban war nicht charmant genug, ihr zu widersprechen, sondern sah sie nur traurig an, aber auch nachdenklich und schon wieder ein bisschen so wie ein strenger und gleichzeitig gütiger Vater, dessen Kind etwas sehr Schlimmes getan hat, und der jetzt überlegte, wie er ihm die zu erwartenden Konsequenzen möglichst schonend beibringen konnte, ohne auch nur einen Deut davon abzurücken.

»Wenn du mich fragst«, sagte er schließlich, dann hat dieser Mistkerl wahrscheinlich nur einen Dummkopf gesucht, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann.« Er gab ein sonderbares Seufzen von sich und maß den zwei Millionen schweren Beutel auf seinem Tisch mit einem langen, traurigen Blick. »Ihr hättet dieses verdammte Ding nicht mitnehmen dürfen.«

Zu diesem Schluss war Pia schon von sich aus gekommen, aber es war noch nie ihre Art gewesen, über einmal gemachte Fehler zu jammern. Erst recht nicht, wenn sie selbst sie gemacht hatte.

»Ich muss nachdenken«, sagte Esteban und seufzte noch einmal, diesmal tiefer. »Wie geht es Jesus?«

»Nicht gut.«

Es war nicht Pia, die antwortete. Ohne dass Esteban oder sie es bemerkt hatten, war die Tür aufgegangen, und ein grauhaariger Mann um die sechzig hatte den Raum betreten. Er trug einen zerschlissenen, billigen Straßenanzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Seine Hände sahen aus wie frisch gewaschen, aber unter seinen Fingernägeln waren braunrote Ränder zu sehen. Pia fragte sich, wie lange er schon dastand und zuhörte.

»Doktor?« Esteban wirkte mit einem Mal deutlich besorgter als noch vor einer Sekunde.

»Ich habe für ihn getan, was ich konnte – aber ich fürchte, es reicht nicht.« Dr. Alvarez kam mit kleinen, schlurfenden Schritten näher, seufzte tief und sah sich nach einem Stuhl um, aber es gab keinen. Pia setzte dazu an, aufzustehen und ihm ihren eigenen Platz anzubieten, doch Alvarez wehrte mit einer müden Bewegung ab und schenkte ihr ein mindestens genauso müdes, aber sehr warmes Lächeln. »Er muss in ein Krankenhaus. Er hat zu viel Blut verloren. Wenn er hierbleibt, stirbt er.«

Esteban sah ihn zwei oder drei weitere Sekunden lang durchdringend an, dann reagierte er ganz genau so, wie Pia es von ihm gewohnt war, schnell und ohne noch mehr Zeit mit unnötigen Fragen zu verschenken. Er nahm den Hörer ab und begann die altmodische Wählscheibe zu drehen. Die Nummer war sehr kurz – nur drei Ziffern, wie Pia auffiel –, und es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bis sich offensichtlich jemand am anderen Ende der Verbindung meldete. »Juan? Esteban hier … Ja, ich fürchte, es geht nicht anders … genau … in zwanzig Minuten. Danke.« Er hängte ein, sah Alvarez und Pia nacheinander und sehr ernst an und nickte schließlich. »Der Krankenwagen ist unterwegs. In einer Stunde ist er in der Klinik. Hält er noch so lange durch?«

»Wenn sich keine Komplikationen mehr ergeben.«

»Komplikationen?«, fragte Pia erschrocken. »Aber es war doch ganz …«

Alvarez brachte sie mit einer müden Geste zum Verstummen. »Ich weiß, wie sehr du an deinem Freund hängst, Kind«, sagte er. Sie kannten sich beinahe so lange, wie sie Esteban kannte, und Alvarez hatte sie vom ersten Moment an Kind genannt, woran sich wahrscheinlich auch nichts ändern würde, wenn sie achtzig war (und er so lange leben sollte). »Und wahrscheinlich wird er es schaffen. Er ist stark, und das ist auch sein Glück. Aber er hat viel Blut verloren, und die Verletzung ist wirklich schwer. Ich kenne niemanden, der so etwas überlebt hätte. Immerhin …«, er griff in die Tasche und zog einen in ein schmuddeliges Tuch eingewickelten Gegenstand heraus, den er mit leicht zitternden Fingern auspackte, während er weitersprach, »… war das hier in seinem Leib.«

Die Worte beinhalteten nicht nur eine Feststellung, sondern auch eine Frage, die Pia ganz bewusst ignorierte. Sie hatte gewusst, was er in der Hand hielt, noch bevor er das Tuch zurückschlug, aber sie fuhr trotzdem erschrocken zusammen, als sie den silbernen Dolch erkannte. Esteban zog die Augenbrauen zusammen, schwieg aber. Er wirkte sehr aufmerksam.

»Du hast ihn nicht herausgezogen«, fuhr Alvarez fort, als sie nicht auf seine unausgesprochene Frage reagierte. »Das war sehr klug von dir. Wahrscheinlich hast du ihm damit das Leben gerettet. Aber sein Zustand ist trotzdem sehr ernst. Hier kann ich nichts mehr für ihn tun. Ich wahrscheinlich«, fügte er nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem, resignierendem Ton hinzu, »sowieso nicht. Da müssen Leute ran, die mehr davon verstehen.«

»Ich hätte ihn gleich ins Krankenhaus bringen sollen«, sagte Pia.

Alvarez war taktvoll genug, gar nicht darauf zu antworten, und Esteban streckte die Hand über den Tisch aus und bedeutete ihm, ihm den Dolch zu geben. Er gehorchte, und Pia nutzte die Gelegenheit, sich die seltsame Waffe zum ersten Mal genauer anzusehen. Es war der sonderbarste Dolch, den sie je erblickt hatte, nicht nur wegen des reich ziselierten und mit einem fast fingernagelgroßen roten Edelstein besetzten Griffs – die Klinge war kaum länger als der Griff und so dünn, dass sie fast unsichtbar wurde, wenn man sie von der Seite betrachtete. Jesus’ Blut klebte nicht mehr daran – Alvarez musste sie gereinigt haben, wofür Pia ihm sehr dankbar war – und sie schien nicht aus Silber, Stahl oder irgendeinem anderen Metall zu bestehen, sondern aus Glas oder Kristall, denn sie war durchsichtig. Je nachdem wie Esteban die Klinge hielt, brach sich der Schein der nackten Glühbirne unter der Decke darin und ließ verschiedenfarbige Lichtblitze auflodern, als wäre die Glut eines Sonnenuntergangs darin gefangen.

»Das ist erstaunlich«, murmelte Esteban. »Und damit hat er nach Jesus geworfen?«

»Ich glaube eher nach Hernandez«, antwortete Pia. »Er hat ihn verfehlt. Wenn Jesus sich nicht dazwischen geworfen hätte, hätte er mich getroffen.« Und das war vielleicht das Schlimmste überhaupt. Dieser Dolch hatte ihr gegolten. Sicher nicht der Mann mit dem silbernen Helm, aber das Schicksal hatte ihr diesen Dolch zugedacht. Und Jesus hatte sich, ohne auch nur nachzudenken, dazwischen geworfen und ihn mit seinem eigenen Körper aufgefangen. Wenn er starb, dachte sie bitter, dann war es genauso, als hätte sie selbst ihn niedergestochen.

»… wirklich erstaunlich«, murmelte Esteban noch einmal.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Alvarez. »Das Ding ist …«

Esteban sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte vorwurfsvoll seinen Daumen an, der heftig zu bluten begonnen hatte.

»… scharf«, führte Alvarez den begonnenen Satz zu Ende.

Esteban warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, steckte den blutenden Daumen in den Mund und drehte den Dolch – mit der anderen Hand und deutlich mehr Respekt – herum, um damit über die Tischkante zu fahren. Die Klinge glitt so mühelos durch das steinharte Holz, wie das Kristallschwert des Fremden vorhin durch die Kehle des Schlägers, und hinterließ einen fünf Zentimeter tiefen Schnitt, so präzise, wie mit einem Laser ausgeführt. Esteban riss die Augen auf, betrachtete das Messer mit plötzlich noch größerem Respekt und legte es mit spitzen Fingern auf den Tisch zurück.

»Tut mir leid«, sagte Alvarez, als wäre das alles seine Schuld. »Aber das Ding ist wirklich scharf. Die meisten meiner Skalpelle sind nicht so gut.«

»Hm«, machte Esteban. Behutsam nahm er den Daumen aus dem Mund, betrachtete den immer noch heftig blutenden Schnitt – Pia erkannte erst jetzt, dass er bis auf den Knochen reichte; wahrscheinlich hatte Esteban Glück, seinen Daumen überhaupt noch zu haben – und griff schließlich mit der anderen Hand zu dem dreckigen Lappen, in den der Dolch eingewickelt gewesen war. Alvarez legte missbilligend die Stirn in Falten, als er den wenig sterilen Verband sah, zu dem er den Fetzen kurzerhand umfunktionierte, sparte sich aber jeden Kommentar. Stattdessen strich sein Blick mit unverhohlener Neugier über den Leinenbeutel auf dem Schreibtisch. Esteban klaubte ihn wortlos mit der unversehrten Hand von der Platte und ließ ihn beiläufig neben seinem Stuhl auf den Boden fallen, als wären nur schmutzige Socken darin.