»Vielen Dank auch, Doktor Alvarez«, sagte er. »Ich weiß zu schätzen, was Sie für Jesus getan haben. Schauen Sie in den nächsten Tagen einmal in ihren Briefkasten. Vielleicht finden Sie eine angenehme Überraschung vor.«
»Sollte ich nicht besser noch bleiben, bis der Krankenwagen …«, begann Alvarez.
»Nein«, unterbrach ihn Esteban. »Pia wird sich um Jesus kümmern, keine Sorge. Sie haben schon mehr getan, als ich von Ihnen erwarten kann. Es ist spät geworden. Machen Sie mein schlechtes Gewissen nicht noch schlechter. Ich weiß doch, dass Sie morgen früh raus müssen, um sich um Ihre anderen Patienten zu kümmern.«
Alvarez wirkte verstört. Esteban und er waren vielleicht keine guten Freunde, aber sie kannten sich ein Leben lang, und bis vor zwei Sekunden hätte sich Pia nicht einmal vorstellen können, dass Esteban ihn rauswarf.
Aber nichts anderes hatte er gerade getan.
»Also dann … ja, Sie … Sie haben vermutlich recht«, murmelte der grauhaarige Arzt. Er fand seine Fassung wieder, wirkte aber immer noch verwirrt. »Ich muss sowieso noch zu einer Schwangeren.«
»Doch hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Esteban.
Alvarez lächelte nervös. »O nein, keine Angst. Der jungen Dame geht es prächtig. Und sie ist auch erst in einem Monat so weit. Das Problem ist eher der Vater. Wenn ich nicht aufpasse, dann stirbt er mir noch vor lauter Nervosität weg, bevor er seinen Sohn auch nur das erste Mal zu Gesicht bekommen hat.«
»Dann sollten Sie sich um ihn kümmern, Doktor.«
Alvarez sah nun eindeutig bestürzt aus – aber schließlich nickte er nur noch einmal abgehackt, fuhr auf dem Absatz herum und floh regelrecht aus dem Zimmer. Pia sah ihm verwirrt nach und wandte sich dann noch verwirrter an Esteban.
»Was war das denn?«
Er ignorierte die Frage, sah zuerst sie, dann den silbernen Dolch und dann wieder sie an, und das auf eine vollkommen veränderte Art; ein Blick, unter dem sich Pia mit jeder Sekunde unwohler fühlte.
»Was?«, fragte sie.
»Dieser seltsame Kerl, von dem du vorhin erzählt hast.« Esteban machte eine Geste auf den Dolch, hütete sich aber, ihm auch nur nahe zu kommen. »Es gibt ihn also wirklich.«
Pia war im ersten Moment so perplex, dass die Worte ein paar Sekunden brauchten, um überhaupt bis zu ihrem Bewusstsein durchzudringen. Sie hatte gedacht, er habe ihr geglaubt. Aber offensichtlich stimmte das nicht.
»Du hast also doch geglaubt, ich hätte mir das alles nur eingebildet«, sagte sie leise. Sie wollte vorwurfsvoll klingen, aber es gelang ihr nicht. »Oder dich belogen.«
»Und er hat nicht gesagt, wer er ist, oder was er von dir will?«, fragte Esteban, ihre Worte komplett ignorierend. Etwas … passierte mit ihm, das fühlte Pia. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, und auch in seinem Blick und seiner Körpersprache war absolut nichts Verräterisches, aber Pia kannte ihn einfach zu gut und zu lange, um nicht zu spüren, dass all das nichts als eine perfekte Maske war.
Dahinter geschah etwas, das sie zutiefst erschreckte.
»Nein«, sagte sie.
»Er hat sich mit gleich vier bewaffneten Männern angelegt und kein einziges Wort gesagt?«, bohrte Esteban weiter. »Einfach so?«
»Einfach so«, bestätigte Pia, genauso ungerührt wie er, aber in hörbar schärferem Ton. »Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl war.« Oder was?Pia hatte ihm weder von den unheimlichen Raben noch von dem noch viel unheimlicheren Haus erzählt, in dem sie gewesen waren, doch sie hatte nichts davon vergessen. Was ging hier vor? Und was hatte er damit zu tun?
»Und er hat mich Gaylen genannt«, fügte sie hinzu.
Diesmal gelang es ihm nicht mehr ganz, sich zu beherrschen. Beinahe, ja. Jedem anderen wäre das fast unmerkliche erschrockene Flackern in seinem Blick wahrscheinlich entgangen …aber es gab kaum jemanden, der ihn so gut kannte wie sie.
»Ein … seltsamer Name«, sagte er. »Klingt ein bisschen nach …« Er tat so, als würde er angestrengt nachdenken, und hob schließlich die Schultern. »Keine Ahnung, wonach.«
Die hatte Pia auch nicht, aber sie fand, dass dieser Name irgendwie zu der ganzen Erscheinung des Fremden passte. Auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl kam.
»Na ja, wir werden den Kerl schon auftreiben«, fuhr Esteban in verändertem Ton fort. »Im Moment haben wir andere Probleme. Warum gehst du nicht zu Jesus und bleibst bei ihm, bis der Krankenwagen kommt? Ich muss noch ein paar dringende Anrufe erledigen und einige … Dinge klären.«
»Wirfst du mich jetzt auch raus?«, fragte Pia.
»Auch?« Esteban schien gar nicht zu begreifen, wovon sie überhaupt sprach. Dann schüttelte er den Kopf. »Natürlich nicht. Ich dachte nur, du willst bei Jesus bleiben, solange er noch hier ist.«
»Ich fahre mit ihm ins Krankenhaus«, sagte Pia, aber Esteban schüttelte sofort und noch viel heftiger den Kopf.
»Das wäre viel zu gefährlich«, erwiderte er. »Solange wir nicht wissen, was mit Hernandez ist, halte ich es für besser, wenn du hierbleibst. Falls der Kerl noch lebt, dann ist er im Moment wahrscheinlich noch unberechenbarer als sonst.«
Pia überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. Wenn Esteban sagte, dass er der Meinung sei, irgendjemand solle dies oder das tun, dann kam das im Allgemeinen einem Befehl gleich, und man tat gut daran, ihn zu befolgen – und so ganz nebenbei hatte er recht. Hernandez war schon unter normalen Umständen schlimm genug. Nach den zurückliegenden Stunden war er vermutlich so unberechenbar und gefährlich wie eine angeschossene Ratte.
»Ich begleite ihn«, sagte sie, ruhig, aber auch mit großem Nachdruck. »Ich bin schuld an dem, was passiert ist.«
»Ja, das stimmt«, antwortete Esteban. »Möchtest du auch noch schuld an meinem Tod sein? Von deinem eigenen wollen wir mal gar nicht reden.«
»Wie?«, machte Pia erschrocken.
Esteban stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Was hast du denn gedacht, was jetzt passiert? Dass ich die Peraltas anrufe und sie höflich um Entschuldigung für das kleine Missverständnis bitte?«
»Aber ich dachte, sie …«
»Genau das glaube ich allmählich nicht mehr«, fiel ihr Esteban ins Wort. »Dass du irgendetwas gedacht hast!«
»Du willst ihnen das Geld also zurückgeben.«
»Von wollen kann gar nicht die Rede sein«, schnaubte er. »Selbstverständlich werde ich ihnen das Geld und den Stoff zurückgeben, weil alles andere Selbstmord wäre. Wahrscheinlich haben ein paar hundert Leute gesehen, wie ihr das verdammte Ding hierhergebracht habt. Ich wäre nicht erstaunt, wenn sie jetzt schon wissen, wo ihre vermisste Lieferung abgeblieben ist! Ich werde sie anrufen und ihnen sagen, wo sie ihr Eigentum abholen können, und wenn sie darauf bestehen, bringe ich es ihnen sogar persönlich. Aber das kann ich erst, wenn ich weiß, wo Hernandez geblieben ist – und wie viel von dem, was auf der Baustelle passiert ist, irgendjemand mitbekommen hat. Ich habe schon ein paar Leute losgeschickt, die nach dem Comandante und seinen Männern suchen, und du solltest beten, dass sie ihn vor den Peraltas finden! Wir brauchen diesen verdammten Revolver. Ohne ihn dürfte es Hernandez schwerfallen zu beweisen, dass Jesus und du irgendetwas mit der Sache zu tun habt. Die Einzigen, die das bezeugen könnten, sind tot. Pech für ihn. Und ziemlich dumm, die einzigen Entlastungszeugen umzubringen, denen die Peraltas vielleicht geglaubt hätten. Glück für dich.«
»Und …?« Pia machte eine schüchterne Kopfbewegung dorthin, wo gerade noch der Beutel auf dem Tisch gestanden hatte. »Das da?«
Esteban winkte ab. »Das war dumm«, sagte er. »Ihr seid dazugekommen, wie sich Hernandez und seine Leute um die Beute gestritten haben, und ihr habt eben die Gelegenheit ergriffen. Wer könnte schon einer Million in bar widerstehen, die einem praktisch in den Schoß fällt? Dumm, aber verständlich. Schließlich konntet ihr ja auch nicht wissen, wem die Ware gehört, nicht wahr? Und hättet ihr es gewusst, hättet ihr sie bestimmt nicht angerührt.«