»Und du glaubst, dass sie dir das abkaufen?«
»Dir«, verbesserte sie Esteban. »Nicht mir. Tut mir leid, aber das kann ich dir nicht abnehmen. Du wirst ihnen diese Geschichte schon selbst erzählen müssen – aber keine Sorge. Ich spreche vorher mit ihnen. Doch das kann ich eben erst, wenn ich weiß, was mit Hernandez los ist. Und so lange bleibst du hier und rührst dich keinen Zentimeter aus dem Haus.« Er wiederholte seine wedelnde Handbewegung. »Und jetzt geh und kümmere dich um Jesus.«
Pia stand auf und ging zur Tür, drehte sich dann doch noch einmal um und sah zu ihm zurück. Esteban schien sie bereits vollkommen vergessen zu haben. Er massierte seinen verletzten Finger und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Kristalldolch hinab, und der Ausdruck auf seinem Gesicht … verstörte Pia. Er wirkte immer noch nachdenklich und erstaunt, aber auch ganz eindeutig erschrocken. Als hätte er ein Gespenst gesehen.
Er verschwieg ihr etwas. Pia hatte nicht die leiseste Ahnung, was es sein mochte, doch er verheimlichte ihr etwas, und sie spürte, dass es etwas Wichtiges war.
Etwas sehr Wichtiges. Gern hätte sie eine entsprechende Frage gestellt, aber sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen hätte, und so drehte sie sich nach einem weiteren, unbehaglichen Zögern um und überquerte den Flur, um das Zimmer zu betreten, in dem Jesus lag.
Obwohl Esteban ganz zweifellos so etwas wie ein Vaterersatz für sie gewesen war und sich zeit ihres Lebens um sie gekümmert hatte, war Pia nicht in seinem Haus aufgewachsen. Vielmehr hatte sie ein Dutzend Eltern gehabt, unterschiedliche Familien von unterschiedlichem Alter und sozialem Status, bei denen sie manchmal für Monate, manchmal für nur wenige Wochen oder ein Jahr oder länger gelebt hatte, stets unter Estebans unsichtbarem Schutz, aber niemals direkt bei ihm. Trotzdem hatte sie ein Zimmer in seinem Haus, in dem sie manchmal übernachtet hatte (niemals länger als ein Wochenende), in das sie manchmal zum Spielen gekommen war und manchmal einfach nur so, um eine Stunde oder zwei hier zu sitzen und das Gefühl zu genießen, dass es einen Ort gab, der ihr allein gehörte, an dem sie tun und lassen konnte, was immer sie wollte, und an dem ihr niemand etwas vorschrieb. Ein großer Schatz, obwohl Estebans Haus alles andere als luxuriös war, nicht einmal sehr viel größer als die meisten anderen Häuser hier.
Jetzt hatte dieses Zimmer die Unschuld der Jugend verloren und war zu einem Ort des Schreckens geworden. Es war dunkel. Pia verzichtete sowohl darauf, das Licht einzuschalten, als auch, die Läden zu öffnen, und durch die schmalen Spalten zwischen den hölzernen Lamellen drang nur mattgrauer Lichtschein herein, kaum genug, um den Raum nicht in vollkommener Dunkelheit versinken zu lassen. Die Luft roch nach Blut, Exkrementen und vielleicht noch nach anderen, schlimmeren Dingen, die sie nicht erkannte und auch gar nicht erkennen wollte, und das allerschlimmste überhaupt waren Jesus’ unregelmäßige rasselnde Atemzüge.
Sie schloss die Tür hinter sich, wie eine Barriere, die sie zwischen sich und der Wirklichkeit mit all ihren Schrecknissen und Gefahren aufrichtete, blieb aber unmittelbar dahinter stehen und wagte es nicht, sich dem Bett weiter zu nähern. Jesus war noch am Leben, das bewiesen seine mühsamen Atemzüge, doch sie hatte nicht den Mut, ganz an das Bett heranzutreten, in dem er lag – ihr Bett, das ihm viel zu klein und von dem sie nicht einmal sicher war, ob es sein Gewicht aushalten würde; immerhin wog er beinahe dreimal so viel wie sie –, und ihm ins Gesicht zu sehen. Er war schon bleich wie ein Toter gewesen, als die Männer in hereingebracht hatten, und seither hatte er noch mehr Blut verloren. Der Boden, auf dem sie stand, war klebrig, und der süßliche Geruch in der Luft erzählte den Rest der Geschichte. Alvarez hatte ihn versorgt, so gut er konnte, aber das war eben nicht besonders gut, wie sie schmerzlich begriff. Er war ein gewissenhafter Arzt, und angesichts der Gegend, in der er lebte und praktizierte, war Jesus auch ganz gewiss nicht der erste Patient mit einer Schuss- oder Stichwunde, den er zu versorgen hatte; aber alles, was ihm an Instrumenten zur Verfügung stand, fand in einer schäbigen schwarzen Arzttasche Platz, die mindestens so alt war wie er selbst, und was Esteban dazu hatte beitragen können, hatte aus einer Emailleschüssel mit heißem Wasser und sauberen Handtüchern bestanden. Wenig mehr, als zu Columbus’ Zeiten üblich gewesen war.
Wie passend, dass Jesus auch mit einer altertümlichen Waffe verwundet worden war, dachte sie bitter, schob den Gedanken aber fast augenblicklich wieder von sich. Sie wollte jetzt nicht an den unheimlichen Fremden denken.
Natürlich gelang es ihr nicht. In der Dunkelheit war es Pia, als erschiene das schmale, silbern umrahmte Gesicht des Fremden vor ihr, und sie glaubte, den Blick seiner seltsamen Augen fast körperlich auf sich zu fühlen. Esteban hatte so unrecht, wie es nur ging. Wer immer dieser seltsame Fremde mit dem Silberhelm auch sein mochte, eines war er ganz bestimmt nicht: ein Verrückter, der irgendetwas ohne Grund tat.
Jesus stöhnte leise, und das Geräusch riss Pia endgültig aus ihren Gedanken. Rasch löste sie sich von ihrem Platz an der Tür, trat neben das Bett und ließ sich nach einem unmerklichen Zögern auf den niedrigen Stuhl sinken, auf dem Alvarez zuvor gesessen hatte. Ihre Hand tastete nach der von Jesus, aber dann wagte sie es doch nicht, sie zu berühren. Er schlief – oder war bewusstlos –, und das war im Moment wohl das Beste, was sie ihm wünschen konnte, denn wäre er wach, würde er zweifellos große Schmerzen leiden. Pia war in ihrem ganzen Leben weder ernsthaft verletzt worden, noch wirklich krank gewesen, und sie wusste nicht, ob er das, was die gläserne Klinge ihm angetan hatte, in seinem momentanen Zustand spürte. Sie hoffte nur, dass es nicht der Fall war.
Aber ganz gleich, was er im Moment durchlitt: Es war ihre Schuld.
Auf die Gefahr hin, ihn zu wecken, überwand sie ihre Hemmungen und griff nun doch nach seiner Hand. Jesus’ Haut war kalt wie die eines Toten, und Pia konnte spüren, wie schnell sein Herz schlug, und hatte damit die Antwort auf ihre Frage. In welcher Welt sein Geist im Moment auch immer weilte, es war dort ganz gewiss nicht angenehmer als hier.
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Berührung seiner kalten Hand ihr mit jeder Sekunde unangenehmer wurde, griff sie noch fester zu und versuchte in ihn hineinzulauschen. Vorhin, als er in ihren Armen zusammengebrochen war, hatte sie seinen Schmerz gespürt, nicht im übertragenen, sondern in ganz realem und körperlichem Sinne, und allein die bloße Erinnerung an die gleißende rote Flamme, die sich in ihren Leib gebohrt hatte, ließ sie noch im Nachhinein schaudern. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen Schmerz verspürt zu haben. Und doch wünschte sie sich im Moment nichts mehr, als ihn noch einmal zu spüren, denn alles wäre besser gewesen als diese schreckliche Leere in ihr.
Was war das?, dachte sie entsetzt. Starb er?
Doktor Alvarez hatte gesagt, dass er sterben könnte, und selbstverständlich hatte sie ihm geglaubt und war entsprechend erschrocken gewesen, doch nun wurde ihr klar, dass sie die wahre Bedeutung dieser Worte erst nach und nach begriff. Noch vor wenigen Stunden hätte sie die bloße Vorstellung als absurd von sich gewiesen, dass es überhaupt irgendetwas gab, was diesen gutmütigen Riesen erschüttern konnte, und schon der reine Gedanke an seinen Tod wäre jenseits alles Möglichen gewesen. Jesus und sie kannten sich seit mehr als zehn Jahren, und er war in all der Zeit stets so etwas wie der Inbegriff von Unerschütterlichkeit und Stärke in ihrem Leben gewesen; der berühmte Fels in der Brandung, den nicht einmal die gewaltigste Flut erschüttern konnte.
Und jetzt lag er im Sterben, und es war ihre Schuld.
Ein Teil von ihr fragte sich ganz sachlich, was sie tun würde, wenn er tatsächlich starb, und die ebenso einfache wie brutale Antwort lautete: nichts.