Was sollte sie schon tun? Sich selbst kasteien? Sich einen Finger abschneiden und ins Kloster gehen? Wohl kaum. Aber ein Leben ohne Jesus würde nicht mehr dasselbe sein wie zuvor. Umso weniger, wenn sie Schuld daran hatte, dass er nicht mehr Teil dieses Lebens war …
Die Tür ging auf und beinahe sofort wieder zu, und leichte Schritte näherten sich. Pia sah nicht einmal auf, sondern blickte weiter den verschwommenen grauen Fleck an, als der Jesus’ Gesicht über dem weißen Kopfkissen zu schweben schien, aber sie roch ein ebenso billiges wie aufdringliches Parfüm und wusste, dass es Alica war, Estebans momentane Bettgespielin. Pia hatte nichts gegen, jedoch auch nicht besonders viel für sie übrig, wusste aber immerhin, dass sie kaum älter war als sie selbst und ziemlich hübsch.
»Der Krankenwagen ist da«, sagte Alica.
Jetzt schon? Esteban hatte am Telefon etwas von zwanzig Minuten gesagt. Hatte sie tatsächlich so lange hiergesessen und Jesus’ Hand gehalten? Ihr kam es vor, als wären es nur ein paar Sekunden gewesen.
»Und jetzt hat Esteban dich geschickt, um auf mich aufzupassen?«, vermutete sie. »Damit ich keine Dummheiten mache?« Die Feindseligkeit in ihrer Stimme überraschte sie selbst ein bisschen, aber Alica schien sie nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Und selbst wenn, störte sie sie wahrscheinlich nicht.
»Er hat nur gesagt, ich solle Bescheid sagen«, antwortete sie.
Pia konnte das uninteressierte Schulterzucken, das die Worte begleitete, in der Dunkelheit hinter sich hören. Alica kam einen weiteren Schritt näher und blieb wieder stehen, und Pia nahm sich vollkommen emotionslos, aber sehr entschlossen vor, ihr die Hand zu brechen, wenn sie es wagte, sie zu berühren und ihr etwa in einer Große-Schwester-Geste die Hand auf die Schulter zu legen. Oder einen Finger.
»Willst du ihn begleiten?«
»Esteban will, dass ich hierbleibe.«
»Nur bis zum Krankenwagen, meine ich.«
Pia dachte einen Moment über diese Frage nach und schüttelte dann den Kopf. Schon hier zu sitzen und seine Hand zu halten, hatte mehr von Abschiednehmen, als sie sich eingestehen wollte. Mit ihm zu gehen und dabei zuzusehen, wie sie ihn auf eine Trage legten, die Türen des Krankenwagen hinter ihm schlossen und abfuhren, wäre mehr, als sie ertragen wollte. Wahrscheinlich konnte sie es. Aber sie wollte es nicht. »Nein.«
»Wie du willst«, antwortete Alica. »Aber du kannst nicht hierbleiben. Hier in diesem Zimmer, meine ich.«
»Es ist mein Zimmer«, erinnerte Pia.
»Und du willst heute Nacht in diesem Bett schlafen?«
Für diese Bemerkung konnte Pia sie noch ein bisschen weniger leiden.
Aber sie hatte auch recht. »Nein«, gestand sie widerwillig ein.
»Du kannst mein Zimmer haben«, sagte Alica. »Ist überhaupt kein Problem. Weißt du was? Ich gehe schon mal nach oben und bereite alles vor, und du kommst nach, wann immer du willst.«
Sie war ja so großzügig, dachte Pia und tat ihr nicht den Gefallen, auch nur ein einziges Wort zu sagen, sondern blickte nur stumm auf Jesus’ bleiches Gesicht hinab, aber ihr Schweigen schien Alica als Antwort vollauf zu genügen. Sie verschwand, um nach oben zu gehen und alles vorzubereiten. Pia fragte sich, was eigentlich. Die Barbie-Puppen von ihrem Bett zu räumen oder ihre Bücher fürs Erstlesealter?
Sie war sich darüber im Klaren, dass sie Alica Unrecht tat, aber ihr schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Manchmal war es gut, jemandem Unrecht zu tun, und jemand wie Alica war eindeutig ein dankbares Opfer.
Ihr blieb noch eine gute Minute, dann wurde es draußen laut, und die Tür wurde unsanft aufgestoßen, um zwei in weiße Jacken mit gelben Neonstreifen gekleidete Sanitäter einzulassen, die eine zusammengeklappte Trage mit sich führten. Ihre Fantasie-Uniformen waren Pia gänzlich unbekannt, vermutlich gehörten sie zu irgendeinem der privaten Rettungsdienste, die den offiziellen Stellen seit Jahren zunehmend (willkommene) Konkurrenz machten, aber sie gingen durchaus professionell vor. Pia stand auf und wich hastig ein paar Schritte zurück, um nicht im Weg zu stehen, folgte jedem ihrer Handgriffe mit schon fast wissenschaftlicher Neugier; und sei es nur, um den bohrenden Schmerz nicht an sich herankommen zu lassen, mit dem sie Jesus’ Anblick erfüllte, nachdem die beiden Männer das Licht eingeschaltet hatten. Er sah noch kränker aus als befürchtet. Das bisherige blasse Licht hatte den Anblick seines Gesichts nicht schlimmer gemacht, sondern war barmherzig gewesen.
Zumindest schienen die beiden Männer zu wissen, was sie taten. Keiner von ihnen sagte auch nur ein einziges Wort, und sie gingen sehr routiniert zu Werke. Während der Jüngere die Trage auseinanderklappte und einen kleinen, aber beeindruckend aussehenden Computer einschaltete, stieß sein Kollege Jesus eine Injektionsnadel in den Arm und befestigte einen dünnen Kunststoffschlauch daran, der zu einem Infusionsbeutel mit einer wasserklaren Flüssigkeit führte. Pia hoffte, dass es sich um ein schmerzstillendes Mittel handelte, das stark genug war, um selbst seine Träume zu erreichen. Keiner der beiden Männer warf auch nur einen Blick unter den klobigen Verband, den Alvarez Jesus angelegt hatte (so groß er war, der ehedem weiße Stoff hatte sich schon wieder braunrot gefärbt, und auf dem Bett blieb ein nasser roter Fleck zurück), aber sie bugsierten Jesus mit einer angesichts seines Gewichtes schon erstaunlichen Mühelosigkeit auf die Trage. So wortlos, wie sie gekommen waren, trugen sie den Bewusstlosen aus dem Zimmer. Pia folgte ihnen bis zur Haustür. Niemand hätte sie daran gehindert, ihnen bis auf die Straße hinaus und zum Wagen zu folgen, der mit offen stehenden Hecktüren und laufendem Motor vor dem Haus wartete, auch Esteban nicht, aber das brachte sie einfach nicht über sich. Sie weigerte sich standhaft, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Jesus tatsächlich starb … aber ihre letzte Erinnerung an ihn sollte auch auf keinen Fall die an einen Krankenwagen sein, in den man ihn verfrachtet hatte wie ein Stück Fleisch auf dem Weg zum Abdecker.
Esteban stand unter der Tür zu dem fast leeren Zimmer, das er sein Büro nannte, als sie schließlich auf den Flur hinaustrat, und sie spürte deutlich, wie er darauf wartete, dass sie irgendetwas sagte, doch sie beließ es bei einem wortlosen Nicken und drehte sich hastig um, um die schmale Treppe ins Obergeschoss hinaufzueilen. Sie konnte jetzt nichts sagen. Sie hätte nicht gewusst, was, außer einfach lautlos zu heulen oder sich in sinnlosen Anschuldigungen zu ergehen, die im Grunde niemand anderem galten als ihr selbst. Zu ihrer Erleichterung schien Esteban das zu spüren, denn er verzichtete darauf, ihr nachzueilen oder auch nur irgendetwas zu sagen. Vielleicht hatte er auch noch nicht mit den Peraltas gesprochen. Sie stürmte die Treppe hinauf und in Alicas Zimmer, ohne anzuklopfen. Ihre Augen brannten. Wenn Jesus starb, dann … dann würde sie …irgendetwas tun. Etwas Schlimmes.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie in Alicas Armen lag und ihren Tränen hemmungslos freien Lauf ließ.
V
Alica ließ ihr mit Swarovski-Steinen besetztes Zippo aufspringen, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und verdrehte übertrieben genießerisch die Augen, bevor sie die Packung in Pias Richtung schüttelte. »Auch eine?«
Die stärkste Droge, die Pia in ihrem ganzen Leben jemals probiert hatte, war das nahezu alkoholfreie Cerveja, das es in den umliegenden Cantinas gab. Ihrer Meinung nach waren Zigaretten nicht nur ungesund, teuer und widerlich, sondern auch einfach dumm.
Trotzdem hätte sie um ein Haar zugegriffen, ganz einfach, weil es eine so vertraute und fast freundschaftliche Geste war, und sie das Gefühl hatte, gerade im Moment eine Freundin dringend gebrauchen zu können. Natürlich tat sie es nicht, aber sie zögerte doch lange genug, um ihre Ablehnung nicht zu rüde erscheinen zu lassen.
»Nein danke«, sagte sie, während sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, um die letzten Tränen wegzuwischen. Seltsamerweise war ihr der Gedanke, minutenlang in Alicas Armen gelegen und hemmungslos geweint zu haben, nicht im Geringsten peinlich.