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Alica hob die Schultern und ließ die Packung aus der gleichen Bewegung heraus und mit den Worten »Stimmt, du rauchst ja gar nicht« in der Tasche ihrer hautengen Jeans verschwinden … wobei hauteng in diesem Zusammenhang wörtlich zu nehmen war. Pia verstand nicht wirklich, wie Alica es schaffte, irgendetwas in die Taschen zu stecken, das nennenswert dicker als eine Briefmarke war. Das Ding sah aus, als hätte man es ihr auf den nackten Leib gemalt. Dasselbe galt übrigens auch für das schwarze Etwas, das sie darüber trug und von dem sie vermutlich als einziger Mensch auf der Welt ernsthaft glaubte, es wäre ein Top.

Pia fragte sich, ob die junge Frau sich nur so kleidete und herausputzte, um Esteban zu gefallen, oder ob es einfach ihre Art war … oder sie sich dieses Outfit ganz bewusst ausgesucht hatte, um sich von ihr zu unterscheiden. Alica war nicht die erste von Estebans wechselnden Freundinnen, die Pia verblüffend ähnlich war. Anders als sie, die langes, glatt bis weit über den Rücken fallendes blondes Haar hatte, das, je nachdem, wie das Licht fiel, manchmal weiß oder sogar silbern schimmerte, trug sie ihr Haar kurz geschnitten in einer schon vor fünfzig Jahren aus der Mode gekommenen Pagenfrisur und schwarz gefärbt, pflegte sich so übertrieben zu schminken, dass es gerade eben noch nicht ordinär aussah, und empfand Kleidung als offensichtlich umso schicker, je knapper sie war.

Dennoch hätten sie Schwestern sein können. Alica und sie waren derselbe Typ. Die junge Frau behauptete, achtzehn zu sein (Pia wusste, dass das nicht stimmte und sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag schon vor Monaten erlebt hatte), und war damit genau in ihrem Alter. Niemand, auch Esteban nicht, kannte Pias genauen Geburtstag. Als sie damals zu ihm gebracht wurde, ein Findelkind, das krank, halb verhungert und von einer großen Angst vor der Welt und den Menschen erfüllt irgendwo am Straßenrand gefunden worden war, hatte er mehr oder weniger willkürlich entschieden, genau diesen Tag zu ihrem vierten Geburtstag zu erklären, und Pia vermutete, dass das auch ungefähr hinkam. Einmal hatte sie ein Foto von Alica gesehen, das sie etwa im gleichen Alter zeigte, und war verblüfft über die Ähnlichkeit mit Bildern von ihr selbst gewesen. Hätte Alica sich anders gekleidet, ihr Haar anders getragen und auf die eine oder andere Monatspackung Spachtelmasse und ein paar Pfund Farbe im Gesicht verzichtet, sie hätten Zwillinge sein können. Sie hatte Alica erst kennengelernt, als die schon mehrere Wochen mit Esteban liiert gewesen war, und da hatte sie bereits so ausgesehen, und trotzdem überlegte Pia nicht zum ersten Mal, ob Alica sich vielleicht ganz bewusst anders darstellte, um nicht in einen Konkurrenzkampf mit ihr zu treten, den sie verlieren musste. Die Blicke, mit denen Esteban Pia manchmal maß, wenn er glaubte, sie merke es nicht, konnten der jungen Frau ebenso wenig verborgen geblieben sein wie ihr selbst.

Alica nahm einen weiteren Zug aus ihrer Zigarette und blies eine übel riechende graue Wolke in ihre Richtung, und Pia musste sich jetzt wirklich beherrschen, um nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. Sie war nicht ganz sicher, ob es ihr gelang.

Wahrscheinlich nicht, denn Alica ging wortlos zum Fenster, stieß es auf und rauchte gegen das Fensterbrett und die Dunkelheit gelehnt, die dahinter heranstürmte, weiter.

»Danke«, sagte Pia.

»Kein Problem«, antwortete Alica. »Ich finde das Zeug selbst widerlich. Ich komme nur nicht davon los.« Wie zum Beweis nahm sie einen weiteren und noch tieferen Zug und begann prompt zu husten … was nach ein paar Sekunden in ein gequältes Lachen überging, dessen Grund Pia nicht ganz nachvollziehen konnte. Trotzdem stand sie auf und nahm einen überquellenden Aschenbecher vom Tisch, um ihn Alica zu bringen. Die nahm ihn dankbar entgegen, dachte allerdings gar nicht daran, ihre Zigarette darin auszudrücken, sondern stellte ihn nur neben sich auf die Fensterbank.

»Wenn du einen guten Rat von einer älteren Frau annehmen willst, Kleines«, sagte sie, immer noch halb hustend, halb lachend, »fang nie mit diesem Scheiß an.« Dann lachte sie noch lauter. »Aber wem erzähle ich das?«

»Das hatte ich auch nicht vor«, antwortete Pia. »Und wie meinst du das überhaupt?«

»Nun, immerhin hast du gerade Koks im Wert von einer Millionen geklaut. Was überhaupt?«, fragte Alica, »Pesos? Rubel?«

»Euro«, antwortete Pia automatisch. Die Globalisierung war auch an der Drogenmafia nicht spurlos vorübergegangen; Drogendeals und andere illegale Geschäfte wurden schon seit Jahren prinzipiell in Euro getätigt. »Und ich hatte nicht vor, das Zeug anzurühren. Oder zu verkaufen.«

»Warum hast du es dann mitgenommen?«, wollte Alica wissen. Die Vorstellung schien sie zu amüsieren.

»Weil …« Pia presste die Lippen aufeinander und schluckte den Rest der ärgerlichen Antwort hinunter, der ihr auf der Zunge lag. Ja, sie hatte sich an Alicas Schulter ausgeweint, und sie war auch gerne bereit zuzugeben, dass es ihr gutgetan hatte – aber das bedeutete noch lange nicht, dass Alica sich jetzt alle Vertraulichkeiten herausnehmen konnte.

»Es ist alles ein bisschen anders gelaufen, als es geplant war«, sagte sie dennoch. »Ich hatte nicht vor, das Koks mitzunehmen. Ich hasse das Zeug.«

»Ja, da sagt Esteban auch.«

»Dass er Drogen hasst?«

»Dass du sie nicht ausstehen kannst. Bist du deshalb auf die Idee gekommen, ausgerechnet einen Drogenkurier auszunehmen?«

»Kennst du jemanden, der es mehr verdient hätte?«

»Auf jeden Fall eine ganze Menge Jemands, mit denen ich mich eher anlegen würde als ausgerechnet mit der Peralta-Familie«, antwortete Alica.

Diesmal brauchte Pia noch länger, bis sie in der Lage war, einigermaßen ruhig zu antworten. Von den wenigen Pluspunkten, die Alica in den vergangenen Minuten gesammelt hatte, hatte sie die allermeisten schon wieder aufgebraucht. »Gibt es irgendetwas, was du nicht weißt?«

»Nicht viel«, antwortete Alica ungerührt. »Die Wände hier sind dünn. Und Esteban hat keine Geheimnisse vor mir. He – ich stehe auf deiner Seite, Süße! Mir ist es völlig egal, was du dir alles einfallen lässt, um Esteban zu beeindrucken. Solange du Esteban damit nicht in Gefahr bringst, kannst du meinetwegen den Papst verführen.«

»Und genau das habe ich deiner Meinung nach getan«, vermutete Pia.

Alica sah sie an, als überlege sie, ob sie das Gespräch überhaupt noch fortsetzen sollte. Pia an ihrer Stelle hätte es nicht getan. Sie spürte selbst, wie aggressiv und unfair sie im Moment war, und ermahnte sich in Gedanken zur Mäßigung.

»Nein«, antwortete Alica schließlich. »Wahrscheinlich nicht. Ich habe mit Esteban gesprochen, und er meint, er kriegt die Sache schon wieder hin. Du kennst ihn doch. Es gibt nicht viel, was er nicht irgendwie wieder hinkriegt. Aber er macht sich Sorgen um dich, wenn du es genau wissen willst.«

Um sie? Und warum lag Jesus dann im Krankenhaus und rang mit dem Tod? »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen«, sagte sie ruppig.

»Der Meinung schien Esteban nicht zu sein«, antwortete Alica gelassen. Sie schnippte ihre Zigarettenasche aus dem offenen Fenster, als gäbe es den Aschenbecher neben ihr gar nicht, warf einen Blick über die Schulter nach draußen und fuhr erst dann fort: »Jedenfalls hat er ein paar Männer kommen lassen, um auf dich aufzupassen.«

Pia machte ein fragendes Gesicht, wartete zwei oder drei Sekunden lang vergebens auf eine Antwort und trat dann neben sie ans Fenster. Im allerersten Moment fiel es ihr schwer, dort draußen überhaupt etwas zu erkennen. Mitternacht musste schon lange vorüber sein, und die Nacht war außergewöhnlich dunkel. Unter ihnen erstreckte sich ein deplatzierter Sternenhimmel aus unzähligen weißen und gelben und roten Funken, zwischen denen sich Schatten bewegten. Zwei davon bewegten sich nicht, und Pia nahm ihre Anwesenheit überhaupt erst zur Kenntnis, als die rote Glut einer Zigarette unter ihr aufglomm. Erst danach registrierte sie die gedämpften Stimmen, die unter ihnen flüsterten.