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»Keine Angst.« Alica versuchte aufmunternd zu klingen und erreichte damit eher das genaue Gegenteil. »Die sind nur für alle Fälle da … sagt Esteban.«

»Und welche Fälle wären das?«, wollte Pia wissen.

Darauf antwortete Alica nicht mehr, sondern hob nur die Schultern und sah sie mit leicht schräg gehaltenem Kopf an.

Pia schluckte die wütenden Worte hinunter, die ihr plötzlich auf der Zunge lagen, setzte sich auf Alicas mit rosa Plüsch bezogenes Bett und zog die Knie an den Körper, um sie mit den Armen zu umschlingen und das Kinn darauf zu stützen; eine Haltung, die sie schon als kleines Kind angenommen hatte, wenn sie über irgendetwas nachdenken wollte. Esteban hatte sich immer gutmütig darüber lustig gemacht und sie ihre Denkerhaltung genannt, und Pia hatte ihm niemals widersprochen; auch wenn das nur die halbe Wahrheit war. Sie fühlte sich in dieser Haltung geborgen, sicher vor einer Welt, die mehr Gefahren für sie bereithielt, als sie auch nur ahnte.

»Du machst dir Sorgen um Jesus, habe ich recht?«, fragte Alica nach einer Weile. Pia registrierte beiläufig, dass sie ihre Zigarette in den Aschenbecher drückte und sich fast sofort eine weitere anzündete. Irgendwie mussten ihr schon wieder ein paar Minuten abhanden gekommen sein, in denen sie einfach dagesessen und ins Leere gestarrt hatte. Wahrscheinlich war das auch der Grund, aus dem Alica sie nach Jesus fragte. Pia nahm an, dass Esteban sie beauftragt hatte, sie ein wenig im Auge zu behalten. Sie wünschte, Alica würde sie einfach in Ruhe lassen.

»Sollte ich das nicht?«, fragte sie spröde.

»Doch«, antwortete Alica. »Aber du solltest dir keine Vorwürfe machen, Süße. Was passiert ist, ist nun mal passiert. Es ändert nichts, wenn du dich selbst fertigmachst, weißt du? Jesus wird es schon schaffen. Er ist stark.«

Das hatte auch Alvarez gesagt, und es war dasselbe, was Pia sich die ganze Zeit über einzureden versuchte. Es durfte gar nicht anders sein. Sie schwieg beharrlich weiter.

»Du hängst wirklich sehr an Jesus, wie?«, fragte Alica. »Ich meine: Ihr beide klebt schließlich zusammen wie Pech und Schwefel. Seid ihr ein Paar?«

»Ein Paar?«

»Du weißt, was ich meine. Tut ihr es?«

»Jesus und ich?« Beinahe hätte sie gelacht. »Nein.«

»He, Kleine, wir sind hier unter uns. Du musst mir nichts vormachen. Jesus war …« Sie verbesserte sich hastig. »… ist ein gesunder junger Mann, und du bist auch nicht gerade hässlich, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Erzähl mir nicht, er hätte es niemals versucht.«

»Und wenn es ganz genauso ist?« Pia wusste zwar nicht, was Alica das anging – fragte sie sie etwa nach ihren Bettgeschichten mit Esteban? –, aber sie fuhr trotzdem fort: »Wir sind nur Freunde, das ist alles.« Genau genommen waren sie mehr, sehr viel mehr sogar. Pia hatte in ihm immer den großen Bruder gesehen, den sie niemals gehabt hatte, und er in ihr seine kleine Schwester. Jesus und sie? Das war lächerlich. Und er hatte tatsächlich niemals versucht, mehr für sie zu sein als ihr Freund und Beschützer …

… oder hatte er es, und sie hatte es nur niemals gemerkt, weil diese Möglichkeit so sehr jenseits ihrer Vorstellungskraft lag?

»Na ja, geht mich ja auch eigentlich nichts an«, sagte Alica, nachdem sie eine geraume Weile ihrem unbehaglichen Schweigen gelauscht hatte. »Ich dachte ja nur, dass …« Sie unterbrach sich, runzelte die Stirn und drehte sich dann wieder zum Fenster, um hinauszusehen. Ihre Haltung drückte plötzliche Anspannung aus.

Pia war mit einem Satz aus dem Bett und mit zwei schnellen Schritten neben ihr. »Stimmt etwas nicht?«

Alica zuckte mit den Achseln und schwieg, und Pia schob sie kurzerhand zur Seite und beugte sich vor, um hinauszusehen. Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Die Favela lag so dunkel und gleichzeitig erleuchtet unter ihnen wie vorher. Ein Flugzeug donnerte in kaum zweihundert Metern Höhe vorbei und steuerte den Flughafen am anderen Ende der Stadt an, und für einen Moment übertönte das Dröhnen der angeblich achsoleisen Flüstertriebwerke jeden anderen Laut. Man konnte sogar den Luftzug des landenden Jumbos spüren. Als es endlich vorbei war, schien die Stille nur noch tiefer zu sein. Alles war ruhig.

Zu ruhig, begriff sie plötzlich. Soweit sie die Umgebung überblicken konnte, rührte sich rings um das Haus gar nichts.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie lauschte in sich hinein und zugleich in die Schatten hinaus und spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist los?«, fragte Alica.

Pia hob erschrocken die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und deutete aus der gleichen Bewegung heraus nach unten. Alica beugte sich gehorsam vor und folgte der Geste, aber ihr Gesichtsausdruck wurde nur noch fragender.

»Die Wache ist nicht mehr da«, sagte Pia, wobei sie ihre Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern dämpfte.

»Und? Wahrscheinlich drehen sie nur eine Runde oder müssen aufs Klo.«

»Zu zweit?« Wahrscheinlich gab es noch ein Dutzend anderer logischer Erklärungen, aber Pias Beunruhigung explodierte regelrecht. Siewusste, dass irgendetwas faul war, basta.

»Warte hier!«, sagte sie, während sie sich bereits vom Fenster abwandte und mit schnellen Schritten zur Tür ging. »Rühr dich nicht von der Stelle!«

»Aber klar doch«, schnaubte Alica. »Supergirl im Einsatz, wie konnte ich das bloß vergessen?«

Pia verdrehte die Augen, aber sie sparte es sich, zu antworten. Alica hatte ja recht. »Also gut, aber dann sei wenigstens still … und mach die verdammte Zigarette aus! Man riecht das Ding bis nach Miami!«

Behutsam öffnete sie die Tür, wobei sie die flache Hand gegen das Holz drückte, um jeden verräterischen Laut zu vermeiden. Alica schepperte hinter ihr herum, als hätte sie es darauf angelegt, nicht nur das ganze Haus, sondern auch noch die drei umliegenden Blocks zu wecken, aber sie drückte immerhin ihre Zigarette in den Aschenbecher und kam dann so leise näher, wie es auf ihren modischen Stöckelschuhen möglich war. Pia verdrehte noch einmal die Augen und sagte weiterhin nichts. Auch wenn es ihr schwerfiel.

Vorsichtig zog sie die Tür weiter auf und lauschte. Blasser Lichtschein drang aus dem Erdgeschoss herauf, und es war still. Auch hier viel zu still für ihren Geschmack.

Sie bedeutete Alica mit einer Geste (die diese ignorieren würde), zurückzubleiben, schlüpfte auf den Flur hinaus und blieb nach zwei Schritten stehen, um erneut zu lauschen. Sie hörte immer noch nichts, aber alle ihre Sinne schrien: Gefahr! Sie lauschte. Im ersten Moment war da rein gar nichts außer dem immer schneller werdenden Hämmern ihres eigenen Pulsschlags und des Heidenspektakels, den Alica bei ihrem Versuch veranstaltete, möglichst leise zu sein, aber dann …

… geschah etwas mit ihren Sinnen.

Es war, als wäre tief in ihr ein unsichtbarer Schalter umgelegt worden, von dessen Existenz sie bisher noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Plötzlich waren die Schatten dunkler, war das Licht heller, waren die Gerüche deutlicher und die Geräusche lauter. Ihre Sinne schienen regelrecht Amok zu laufen. Sie glaubte sogar, Alicas Herzschläge hinter sich zu hören und ihren nach Zigarettenrauch und Pfefferminz riechenden Atem zu spüren. Fast erschrocken drehte sie sich um, sah zu ihr zurück und stellte fest, dass sie noch mindestens drei Meter hinter ihr stand. Aber verdammt, sie konnte ihren Atem riechen! Was geschah hier?

Was?, formulierten Alicas Mund und ihr fragender Blick, ohne dass auch nur der mindeste Laut über ihre Lippen kam.

Nichts, antwortete Pia auf dieselbe lautlose Art. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Alica die wortlose Kommunikation auch verstanden hatte, ging zur Treppe und blieb noch einmal kurz stehen, bevor sie den Fuß auf die erste Stufe setzte. Es kam ihr selbst fast unglaublich vor, aber sie konnte Atemzüge dort unten hören, Atemzüge von mindestens zwei, wenn nicht mehr Männern … und einen sonderbaren Geruch vernehmen, fremdartig und zugleich auf eine sonderbare, erschreckende Art vertraut.