Sie machte einen einzelnen Schritt, zog den Fuß dann wieder zurück und streifte aus einem plötzlichen Impuls heraus die Schuhe ab, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Die Atemzüge wurden deutlicher, und sie hörte ein gedämpftes Schleifen und Poltern. Ein Klirren. Metall?
Noch vorsichtiger bewegte sie sich weiter, hielt auf dem letzten Absatz an und versuchte, das nebelige Dunkel unter sich mit Blicken zu durchdringen. Geizig, wie Esteban war, brannte im Hausflur nur eine trübe Zehn-Watt-Birne, und das funzelige Licht reichte nicht einmal ihrem plötzlich auf so erstaunliche Weise gesteigerten Sehvermögen, mehr als vage Schatten und Umrisse zu erkennen. Immerhin sah sie, dass der verwinkelte Hausflur leer war. Eigentlich spürte sie es.
Die Tür zu Estebans Büro stand offen, und das Licht dahinter war heller. Pia lauschte einen Moment auf die diversen Geräusche, die an ihr Ohr drangen, und versuchte, die unterschiedlichen Richtungen zu bestimmen, aus denen sie kamen, aber so magisch scharf waren ihre Sinne denn doch noch nicht geworden. Immerhin war sie jetzt sicher, dass mindestens zwei Leute hier waren, die hier nichts zu suchen hatten.
Hinter ihr polterte Alica die Treppe herunter (Pia nahm an, dass sie sich alle Mühe gab, leise zu sein, aber leise bedeutete für sie plötzlich etwas vollkommen anderes als noch vor wenigen Augenblicken), und Pia gestikulierte heftig mit beiden Händen, leiser zu sein, und legte dann das letzte halbe Dutzend Stufen auf nackten Füßen und vollkommen lautlos zurück. Irgendetwas polterte, aber das Geräusch kam aus einem der anderen Räume hier unten. Pia glitt auf Zehenspitzen durch den Flur und roch das Blut, noch bevor sie die Tür ganz aufgeschoben hatte und hindurch gehuscht war. Trotzdem konnte sie nur mit Mühe einen erschrockenen Schrei unterdrücken.
Esteban lag mit eingeschlagenem Schädel hinter seinem Schreibtisch, mit dem Gesicht nach unten in einer Lache seines eigenen Blutes. Er lebte noch – sie konnte seine Atemzüge hören –, war aber schwer verletzt. Sein Schreibtisch stand nicht mehr so, wie Pia es in Erinnerung hatte, und der fünfzig Jahre alte Bürostuhl würde seinen einundfünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben, denn er war in Stücke gebrochen.
Hinter ihr wurden klappernde Schritte laut, und dann kam Alica herein und hatte sich nicht ganz so gut in der Gewalt wie sie, denn sie erstarrte zwar für eine geschlagene Sekunde mitten in der Bewegung, schlug aber dann die Hand vor den Mund, um einen kleinen, halblauten Schrei auszustoßen. Pias Versuch, es irgendwie zu verhindern, kam zu spät.
Die Reaktion erfolgte unmittelbar.
Hinter ihnen erscholl ein sonderbar rauer, gutturaler Schrei, dann näherten sich rasche, sehr schwere Schritte, begleitet von demselben metallenen Klirren, das sie gerade schon gehört hatte.
Sie dachte nicht mehr, sondern reagierte. Jeder Fluchtversuch wäre sinnlos gewesen, und in dem kleinen, fast leeren Raum gab es nichts, wo sie sich hätten verstecken können … also ergriff sie Alica kurzerhand bei den Schultern und zerrte sie in die einzige Deckung, die es hier drinnen überhaupt gab, so lächerlich sie auch sein mochte: hinter die Tür und in den Schatten, den sie warf.
Nur einen Atemzug später stürmten zwei Männer herein, wie Pia sie sich bizarrer in diesem Moment kaum hätte vorstellen können: Beide waren sehr groß und hatten langes Haar, das schmutzig und verfilzt bis weit über den Rücken hing. Pia konnte nur eines der beiden Gesichter erkennen, das von einem mindestens ebenso ungepflegten Bart beherrscht wurde, und sie wusste, dass das des anderen genauso aussah. Es war nicht das erste Mal, dass sie Männer wie diese zu Gesicht bekam.
Es waren zwei der drei Kerle, die sie in dem unheimlichen Haus in den Schatten gesehen hatte. Der dritte rumorte irgendwo im Haus herum – sie konnte seine stampfenden Schritte und ein lautstarkes Klirren und Scheppern hören –, und aus der Nähe und bei Licht betrachtet, boten sie einen noch viel schlimmeren Anblick als vergangene Nacht. Sie waren tatsächlich in Felle gekleidet, die sie sich wie einfache Umhänge um die Schultern geschlungen hatten, und trugen darunter grobe Hosen ohne Taschen. Ihre Oberkörper und Füße waren ebenfalls nackt. Alles an ihnen starrte vor Schmutz, und ihre Gesichter waren mit barbarischen Tätowierungen übersät. Und das war auch das einzige Wort, das Pia im Zusammenhang mit ihnen passend erschien: Es waren Barbaren. So verrückt ihr der Gedanke auch vorkommen mochte. Beide waren bewaffnet, der eine mit etwas, das eine Machete hätte sein können, wäre der Griff nicht völlig falsch gewesen, der andere zu Pias fassungslosem Erstaunen mit einer Keule.
Hinter ihr erklang ein halb ersticktes Ächzen, und als Pia den Kopf drehte, wurde ihr klar, dass sie Alica noch immer die Hand auf den Mund presste und ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Behutsam lockerte sie ihren Griff; allerdings erst, nachdem sie Alica einen warnenden Blick zugeworfen und diese mit einem angedeuteten Nicken darauf geantwortet hatte. Ein einziger verräterischer Laut, und es war um sie beide geschehen.
Nicht dass das noch einen großen Unterschied machen würde. Sie standen vollkommen deckungslos an der Wand hinter der Tür. Sollte einer der Männer auch nur den Kopf drehen, dann musste er sie einfach sehen. Pia blickte sich instinktiv nach irgendetwas um, das sie als Waffe benutzen könnte, doch da war nichts. Sie wusste zwar, dass Esteban eine Pistole in seiner Schreibtischschublade verwahrte, aber das war eben das Problem: im Schreibtisch, und somit hätte sie genauso gut auf der Rückseite des Mondes liegen können. Es war vorbei. In einer Sekunde musste sich einer der beiden Eindringlinge umdrehen und sie sehen.
Es dauerte nicht einmal eine Sekunde.
Als wäre ihr Gedanke ein Stichwort gewesen, versetzte der größere der beiden Barbaren dem bewusstlosen Esteban einen frustrierten Tritt in die Seite und hob dann den Kopf, und Pia tat ganz instinktiv dasselbe, was sie schon einmal getan hatte: Sie griff nach den Schatten und verwandelte sie in einen schützenden Mantel, den sie dicht um Alica und sich wickelte. Der Barbar führte seine begonnene Bewegung zu Ende und sah sie an, aber auf seinem Gesicht erschien weder Überraschung noch Schrecken, sondern … gar nichts.
Er sah sie nicht, begriff Pia. Er sah Alica und sie direkt an, aber er sah sie nicht, weil die Schatten sie vor seinem Blick verbargen!
Der Bursche versetzte Esteban einen weiteren, noch derberen Tritt und hob seine Machete, und Pia wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er seine schreckliche Waffe niedersausen ließ und Esteban endgültig tötete, aber dann gab er nur einen schnaubenden Grunzlaut von sich und wandte sich in einer Sprache an seinen Kameraden, die sich kaum artikulierter anhörte. Der andere lachte – wenigstens glaubte Pia, dass das raue Bellen so etwas wie ein Lachen sein sollte –, drehte sich einmal um sich selbst und ließ seinen Blick dabei aufmerksam durch den Raum gleiten. Er sah sie ebenso wenig wie der andere.
Etwas … zupfte an dem unsichtbaren Mantel, der sie umgab. Pia spürte, wie die Schatten entgleiten wollten, griff hastig und fester danach und zog sie wieder enger um Alica und sich. Der Blick des Mannes wanderte weiter, ohne sie zu erfassen, und nachdem er seine Drehung beendet hatte, ging er zu einem der mit Akten und Papierstapeln vollgestopften Holzregale an der Wand und zertrümmerte es mit einem einzigen, wütenden Tritt. Sein Kamerad lachte noch einmal auf dieselbe bellende Art, stieg mit einem übertrieben ausholenden Schritt über den bewusstlosen Esteban hinweg und deutete zur Tür. Nach einer letzten, aus nur wenigen Worten in ihrer gutturalen UnSprache bestehenden Unterhaltung drehten sich beide um und gingen.
Und beinahe hätte es sogar geklappt.
Der Barbar mit der Keule verließ den Raum, sein Kamerad folgte ihm dichtauf, blieb mitten in der Bewegung stehen – und sah sie an.