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Pias Herz machte einen erschrockenen Sprung. Sie konnte spüren, wie Alica hinter ihr zusammenfuhr und ein gnädig gesonnenes Schicksal sie vor Schrecken einfach erstarren ließ. Der Barbar kam näher, stand jetzt kaum noch auf Armeslänge entfernt vor ihr und sah ihr direkt ins Gesicht. Sein Blick blieb leer, aber sie konnte sein Misstrauen beinahe riechen, und das Zupfen und Zerren an den Schatten nahm zu.

Dann begann er zu schnüffeln.

Pia war im ersten Moment einfach nur perplex. Auch aus der Nähe bot der Barbar keinen wirklich erfreulicheren Anblick als von Weitem, sondern schien ganz im Gegenteil mehr und mehr von seiner Menschlichkeit zu verlieren. Und er schnüffelte tatsächlich; wie ein Hund, der Witterung aufnahm.

Vielleicht roch er Alicas billiges Parfüm.

Pia konzentrierte sich wieder, hüllte den Mantel aus Schatten enger um sich und hielt den Atem an, und der Barbar zog noch einmal tief die Luft durch die Nase ein, machte ein leicht angewidertes Gesicht und trat einen Schritt zurück, und gerade als er sich endgültig umwenden und gehen wollte, gab Alica ein helles Wimmern von sich, und Pia konnte spüren, wie der Mantel aus beschützender Dunkelheit zerriss, der sie beide umgab.

Nicht dass sie auch nur den leisesten Schimmer gehabt hätte, was sie da tat oder gar, warum – aber sie reagierte eindeutig schneller und mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst wohl am meisten überrascht hätte, hätte sie in diesem Moment einen Sekundenbruchteil Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Der Barbar fuhr herum und machte einen halben Schritt auf sie zu, und jetzt war Erkennen in seinen Augen und so etwas wie eine Mischung aus Überraschung und wildem Triumph.

Es hielt genau so lange an, wie Pia brauchte, um ihm in nackter Todesangst beide Hände mit aller Kraft vor die Brust zu stoßen.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Handgelenke zu feinem Staub und Knochensplittern zerbröselten, aber die Wucht des doppelten Schlages reichte aus, um den Mann haltlos zurück und mit solcher Gewalt gegen die Schreibtischkante taumeln zu lassen, dass das schwere Möbelstück in allen Fugen ächzte.

Draußen auf dem Flur erklang ein überraschter Schrei. Pia warf die Tür zu, registrierte mit grimmiger Zufriedenheit, dass sie auf halbem Wege gegen ein Hindernis prallte, das mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel, und stürzte hinter dem Barbaren her. Mit einer einzigen fließenden Bewegung flankte sie über den Schreibtisch, riss die Schublade auf und stöhnte vor Enttäuschung laut, als sie sah, dass diese nichts außer einigen Papieren und irgendwelchem Kleinkram enthielt. Estebans Waffe musste in der anderen Schublade liegen. Fast schon verzweifelt fuhr sie herum, registrierte aus den Augenwinkeln, dass sich auch der Barbar längst wieder gefangen hatte und mit erschreckend behänden Bewegungen um den Tisch herumkam, und riss die zweite Schublade auf – allerdings nur zur Hälfte, dann krachte diese mit solcher Wucht gegen die Hüfte des Angreifers, dass er zum zweiten Mal ein schmerzerfülltes Grunzen ausstieß und wankte. Die Waffe lag ganz oben in der Schublade, aber der Griff war leer, das Magazin, falls es überhaupt geladen war, lag daneben. Esteban war eben ein vorsichtiger Mensch, gerade was den Umgang mit Waffen anging.

Allein der Gedanke, in die Schublade greifen, die Pistole und das Magazin herausnehmen und die Waffe anschließend auch noch laden, entsichern und auf Fred Feuersteins hässlichen Bruder richten zu wollen, war völlig lächerlich, aber welche Wahl hatte sie schon? Sie griff zu, und ganz wie sie es erwartet hatte, packte der Bursche seinerseits ihr Handgelenk, und das mit solcher Gewalt, dass ihr vor schierem Schmerz die Tränen in die Augen schossen.

Aber er griff unglaublicherweise nach ihrer linken Hand, nicht nach der, mit der sie nach der Pistole angelte.

Pia beschloss, sich später zu wundern und dieses unerwartete Himmelsgeschenk einfach anzunehmen, riss die Waffe heraus und knallte sie dem Burschen mit solcher Kraft ins Gesicht, dass sie hören konnte, wie sein Nasenbein mit einem trockenen Knacken brach. Heulend vor Schmerz ließ er ihren Arm los, schlug die Hände vors Gesicht und taumelte zwei Schritte zurück, und Pia griff hastig nach dem Magazin und sprang ihrerseits drei oder vier Schritte nach hinten, bevor sie es in den Griff rammte, den Sicherungshebel umlegte und beidhändig auf den Barbaren zielte.

»Beweg dich nicht!«, keuchte sie. »Einen Schritt näher, und du bist tot! Alica! Komm her zu mir!«

Der Angreifer reagierte gar nicht, sondern ließ nur die Hände sinken und funkelte sie beinahe hasserfüllt an, und auch Alica antwortete nicht. Als Pia einen Blick in ihre Richtung riskierte, sah sie, dass der zweite Mann ebenfalls wieder hereingekommen war und Alica von hinten gepackt und mit beiden Armen umschlungen hatte. Sie gab keinen Laut von sich, wahrscheinlich, weil ihr der brutale Griff einfach die Luft abschnürte, gebärdete sich aber wie wild und strampelte mit den Beinen.

Dann stampfte sie wuchtig mit dem rechten Fuß auf.

Ihr Stöckelabsatz durchbohrte den nackten Fuß des Angreifers mühelos und grub sich auch noch knirschend ein gutes Stück tief in die Fußbodenbretter.

Der Barbar brüllte vor Schmerz, ließ Alica los und krümmte sich, und sie war nicht nur geistesgegenwärtig genug, sich endgültig loszureißen, sondern auch aus dem Schuh zu schlüpfen und hastig an Pias Seite zu humpeln. Der Barbar brüllte noch lauter vor Wut und Schmerz, versuchte ihr zu folgen und fiel dann endgültig auf die Nase, anscheinend hatte er vergessen, dass sein Fuß noch am Boden festgenagelt war.

»Bleib hinter mir!«, stieß Pia hervor. »Gut gemacht. Und du rührst dich nicht von der Stelle, ist das klar?«

Der letzte Satz galt dem Barbaren, dem sie die Nase gebrochen hatte. Sie unterstrich ihre Warnung noch, indem sie die Waffe fester mit beiden Händen umgriff und mit durchgedrückten Armen und leicht gespreizten Beinen auf ihn zielte, eine Haltung, die eigentlich jeder erkennen musste, der schon einmal einen amerikanischen Action-Film gesehen hatte, die ihn aber nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Er wischte sich mit dem Unterarm das Blut aus dem Gesicht, zog lautstark die Nase hoch – und legte dann unglaublicherweise seine Machete auf den Tisch, bevor er mit fliegenden Schritten und sehr grimmigem Gesicht näher kam. War der Kerl verrückt geworden?

»Bleib stehen!«, sagte Pia. »Bleib stehen oder ich schieße! Ich meine es ernst!«

Er kam einen weiteren Schritt näher, und Pias Gedanken begannen sich schier zu überschlagen. Sie wollte nicht schießen. Sie konnte nicht auf einen Menschen schießen, nicht einmal jetzt, und vielleicht verstand der Kerl ja auch einfach nicht, was sie sagte. Sie hatte seine Sprache ja auch nicht verstanden. Hastig wich sie zusammen mit Alica so weit zurück, bis sie gegen die Wand prallten, senkte die Waffe und feuerte eine Kugel in den Boden unmittelbar vor seinen Füßen, als er noch drei Schritte entfernt war.

In der Enge des Zimmers dröhnte der Schuss wie die Explosion einer Handgranate. Der Mann prallte zurück, allerdings mehr überrascht als wirklich erschrocken; und wenn überhaupt galt sein Schrecken wohl eher dem unerwarteten Knall. Kaum einen Atemzug später hatte er sich wieder gefangen und drang nur umso entschlossener auf sie ein.

Diesmal feuerte Pia nicht mehr auf den Fußboden.

Die Waffe war nicht besonders schwer, hatte keinen nennenswerten Rückstoß und auch kein besonders großes Kaliber. Die Kugel schlug in die Schulter des Barbaren und riss ihn zwar herum, schleuderte ihn jedoch nicht zu Boden und hielt ihn nicht einmal wirklich auf. Er keuchte vor Schmerz und Überraschung und sah plötzlich wirklich erschrocken aus, aber sein eigener Schwung brachte ihn weiter vorwärts. Pia wich ihm mit einer hastigen Bewegung aus, doch Alica war nicht schnell genug. Der Angreifer prallte hart gegen sie und riss sie mit sich zu Boden, als er endlich stürzte. Pia reagierte abermals mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst überraschte, versetzte ihm einen Tritt, der ihn von Alica hinunterrollen ließ, und zog die junge Frau grob auf die Füße. Beinahe gleichzeitig wirbelte sie herum und richtete die Pistole auf den anderen Kerl, der seinen Fuß jetzt zwar losgerissen hatte und halb aufgesprungen war, dann aber mitten in der Bewegung erstarrte. Möglicherweise hatten diese sonderbaren Männer noch nie in ihrem Leben eine Schusswaffe gesehen, aber sie besaßen zumindest eine schnelle Auffassungsgabe. Sein Blick flackerte zwei- oder dreimal zwischen dem unscheinbaren silbernen Degen in Pias Hand und seinem Kameraden hin und her, der sich stöhnend auf dem Boden wälzte und die Hand gegen seine heftig blutende Schulter presste, dann ließ er sich demonstrativ wieder auf die Knie hinabsinken.