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Die Tür flog auf, und ein dritter Mann mit langem Haar, verfilztem Bart und einem wehenden Umhang stürzte herein. Er hatte die Schüsse gehört, aber anders als seine beiden Begleiter hatte er noch keine Ahnung, was der Lärm bedeutete.

Sein Pech. Pia schoss ihm ins Bein, sprang über ihn hinweg, noch während er mit einem überraschten Keuchen zusammenbrach, und zerrte Alica einfach hinter sich her. Ohne zurückzusehen, rannten sie durch den Flur und aus dem Haus, und hätte Alica nicht plötzlich in Panik aufgeschrien und sie jäh zurückgerissen, dann wäre Pia vielleicht direkt in das Schwert des vierten Barbaren gerannt, der unmittelbar vor dem Haus stand und auf sie wartete.

Sie konnte nicht sagen, wer erschrockener war. Seine Bewegung war wohl kaum mehr als ein Reflex gewesen, denn als die Schwertklinge gerade mal einen Fingerbreit neben ihr in den Türrahmen fuhr, erschien ein Ausdruck von purem Entsetzen in seinen Augen. Er hätte sie in diesem Moment ohne Probleme mit der anderen Hand packen und niederringen können, aber aus irgendeinem Grund verzichtete er darauf.

Pia kannte solche Hemmungen nicht.

Sie verzichtete zwar ihrerseits darauf, abzudrücken, rammte ihm aber den Pistolenlauf mit solcher Wucht in den Leib, dass ihm die Luft wegblieb. Der Mann fiel nicht, sondern stolperte einen halben Schritt zurück, und Pia half mit einem wuchtigen Schulterstoß nach. Seine Hand ließ das Schwert los, das noch immer im Holz des Türrahmens steckte, und er kippte mit hektisch rudernden Armen nach hinten und fiel auf den Rücken. Sie wartete erst gar nicht, bis er sich wieder hochstemmte, steppte blitzschnell nach links und an ihm vorbei in die beschützende Dunkelheit hinein, wobei sie Alica einfach hinter sich herzerrte.

Die beiden kamen kaum ein halbes Dutzend Schritte weit, bevor Alica stolperte, das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinschlug. Pia ließ zwar ihre Hand früh genug los, um nicht mit ihr zu Boden gerissen zu werden, aber als sie stehen bleiben wollte, um sich zu ihr herumzudrehen, stolperte sie selbst über irgendetwas und fiel schwer auf die Knie. Beinahe hätte sie die Pistole fallen gelassen.

Es gelang ihr nicht nur, die Waffe zu behalten, sondern auch, die andere Hand auszustrecken und ihrem Sturz so die schlimmste Wucht zu nehmen, aber sie griff in irgendetwas Weiches, Großes, Warmes und widerlich Klebriges und musste einen plötzlichen Brechreiz unterdrücken, als ihr intensiver Blutgeruch in die Nase stieg.

»Ist … dir was passiert?«, drang Alicas Stimme aus der Dunkelheit an ihr Ohr. Pia versuchte sie zu sehen oder wenigstens die Richtung auszumachen, aus der ihre Stimme kam, aber weder das eine noch das andere wollte ihr gelingen. So übertrieben scharf ihre Sinne gerade gewesen waren, so stumpf und unsensibel schienen sie plötzlich zu sein; als müsste sie den Preis für das bezahlen, was sie gerade vermeintlich geschenkt bekommen hatte.

»Nein«, antwortete sie. »Aber sprich verdammt noch mal leise! Und zieh den bescheuerten Schuh aus!« Sie wusste nicht einmal, ob Alica wirklich wegen ihres fehlenden Schuhs gestolpert war, aber der scharfe Tonfall zeigte Wirkung. Alica sagte nichts mehr, und irgendwie … spürte Pia, wie sie sich beruhigte.

»Bleib, wo du bist.« Sie stand auf, fasste mit halb ausgestreckten Armen in die ungefähre Richtung, aus der Alicas Stimme kam, und ertastete plötzlich etwas, das sich nach ihrem Gesicht anfühlte. Die junge Frau stieß ein ärgerliches Schnauben aus.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Pia.

»Sicher.« Alica schnaubte lauter. »Hast du noch eine blödere Frage auf Lager?«

Pia musste zwar ein Lächeln unterdrücken, schob aber trotzdem mit der linken Hand die Pistole unter den Hosenbund und tastete mit der anderen weiter an Alicas Gesicht hinab, bis sie ihre Schulter und schließlich ihren Oberarm fühlte und sie mit sanfter Gewalt umdrehte. Sie wollte nicht, dass Alica die Leichen der beiden Männer sah, die Esteban zu Pias Schutz abkommandiert hatte. »Weiter.«

Während der ersten Schritte war sie vermutlich genauso blind wie Alica. Sie stolperte einfach los und hoffte, dass sie instinktiv die richtige Richtung wählte. Ihre Sinne funktionierten immer noch nicht. Sie sah kaum mehr als Schatten und war nicht sicher, ob das, was sie hörte, auch wirklich real war. Wahrscheinlich sah und hörte Alica in diesem Moment mehr als sie, aber Pia hatte nun einmal die Initiative übernommen und konnte jetzt nicht mehr zurück. Sie liefen weiter, stolperten nebeneinander und im gleichen Augenblick über die knöchelhohe Mauer aus weiß angestrichenen Steinen, die Estebans Grundstück begrenzte, und hasteten über die schlammige Straße. Hinter ihnen gellte ein Schrei durch die Nacht. Etwas knallte – kein Schuss, sondern ein anderer, dunklerer Laut – und Schatten bewegten sich hektisch hin und her, schienen sich zu einem irrsinnigen Reigen zusammenzufinden und trieben wieder auseinander, bevor sie endgültig Gestalt annehmen konnten. Die Luft roch nach Schnee.

»Pia?«

Alica rüttelte so heftig an ihrer Schulter, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und es wehtat. Pia fegte ihre Hand zur Seite und funkelte sie an.

»Was soll der Unsinn?«

»Das frage ich dich«, antwortete Alica. »Du warst weggetreten. Ist alles in Ordnung?«

»Weggetreten?«

»Mindestens eine Minute«, bestätigte Alica. »Was ist los mit dir?«

»Nichts«, antwortete Pia unwirsch. Weggetreten? Aber sie hatte doch nur … »Nichts«, sagte sie noch einmal. »Wir müssen weiter. Los!«

Alica sah sie zweifelnd an, beließ es aber bei einem wortlosen Achselzucken und machte eine fragende Geste. Los, begriff Pia, war im Prinzip eine gute Idee. Die Frage war nur, wohin. Und was sollte das heißen: Sie war eine Minute weggetreten gewesen?

Pia schüttelte den Gedanken mit einer neuerlichen Anstrengung ab, schenkte Alica ein flüchtiges, aber ehrlich gemeintes Lächeln und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Augenscheinlich hatte Alica mit ihrer Behauptung recht, dass sie für eine Weile abwesend gewesen war. Sie hatten sich mindestens zwei- oder dreihundert Meter von Estebans Haus entfernt, und Pia konnte beim besten Willen nicht sagen, wie. Die unheimlichen Angreifer schienen sie nicht zu verfolgen.

»Und wohin gehen wir jetzt?«, fragte Alica.

Pia überlegte einen Moment. »Irgendwohin«, sagte sie schließlich. »Ganz egal. Nur zu niemandem, den wir kennen.«

»Warum nicht?«

»Weil sie uns da zuerst suchen werden.«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Alica, nachdem sie einen Moment lang stirnrunzelnd über dieses Argument nachgedacht hatte. »Und wohin gehen wir dann?«

Eine gute Frage, dachte Pia. Sie nahm sich fest vor, sie auch zu beantworten. Sobald ihr selbst die Antwort eingefallen war.

VI

»Glaubst du, dass Esteban tot ist?«

Es war das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit, dass Alica diese Frage stellte. Die beiden ersten Male hatte Pia sich mit viel Glück und hastig improvisierten Ausflüchten vor einer Antwort gedrückt, aber allmählich fielen ihr keine Ausreden mehr ein. Sie mussten inzwischen mindestens zwei oder drei Kilometer von Estebans Haus entfernt sein, und von ihren Verfolgern war immer noch keine Spur zu sehen. Pia war ziemlich sicher, dass sie sie abgehängt hatten. Sie selbst hatte jedenfalls schon lange keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden.