»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Jedenfalls war er noch am Leben, als wir im Zimmer waren.«
»Aber da war so viel Blut!«
»Ich schätze, das meiste war von dem Kerl, dem du den Fuß perforiert hast«, antwortete Pia. Sie versuchte, eher amüsiert als besorgt zu klingen, und zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr sogar. »Keine Sorge. Sie haben ihm eins übergebraten, und wahrscheinlich wird er morgen früh mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens aufwachen, aber ich glaube nicht, dass er tot ist. Du kennst doch Esteban. Er hat einen harten Schädel.«
»Hoffentlich«, sagte Alica. »Wäre schade, wenn ihm was passiert wäre.«
Schade? Pia warf ihr einen leicht verwirrten Blick zu. Für jemanden, der seit fast einem Jahr Tisch und Bett mit Esteban teilte, war das eine eigenartige Formulierung, fand sie. Andererseits ging es sie nichts an.
»Übrigens, was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid«, fuhr Alica fort, nachdem sie einige Minuten schweigend nebeneinander durch die verlassenen Straßen gegangen waren.
»Was?«
»Das mit Supergirl und so.« Alica bemühte sich, ein möglichst anerkennendes Gesicht zu machen. »Du warst wirklich gut. Wenn du nicht so cool reagiert hättest, dann hätten sie uns erwischt, da bin ich sicher.«
Pia auch, was aber nichts daran änderte, dass sie sich nach wie vor fragte, wie sie das überhaupt gemacht hatte. Sie hatte früh gelernt, sich ihrer Haut zu wehren, aber das vorhin war etwas vollkommen anderes gewesen. Alica hatte recht: Sie hatte sich wie Supergirl benommen, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, stolz darauf zu sein. Eigentlich erschreckte es sie ein bisschen.
»Verrätst du mir noch etwas?«, fragte Alica, als sie auch darauf nicht reagierte.
»Wenn du mir versprichst, danach die Klappe zu halten.«
Alica ignorierte das, genau wie Pia es erwartet hatte. »Als wir in Estebans Büro gestanden haben, hinter der Tür«, sagte sie. »Wie hast du das gemacht?«
Auf ganz genau diese Frage hatte Pia gewartet, und sie hatte sie auch befürchtet. Sie gewann noch ein paar Sekunden, indem sie Alica mit gespielter Ratlosigkeit ansah und fragte: »Was?«
»Der Kerl hat direkt in unsere Richtung geblickt«, sagte Alica. »Er hat keinen Meter vor uns gestanden, und er hat uns nicht einmal gesehen! Also, wie hast du das gemacht?«
»Ich habe gar nichts gemacht«, antwortete Pia. »Und ich habe keine Ahnung, was mit dem Kerl los war.«
»Verarsch mich nicht«, erwiderte Alica ernst. »Ich bin vielleicht nicht so helle wie du und Esteban, Süße, aber ich bin noch nicht ganz blöd. Ich weiß zwar nicht, was du gemacht hast, aber ich habe genau gespürt, dass du etwas gemacht hast. Also, was war’s?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Pia ehrlich. »Ich … ich hatte einfach das Gefühl, dass es richtig war, und da habe ich es getan. Aber ich weiß weder, was, noch, wie.«
Alica starrte sie noch einen weiteren Herzschlag lang durch dringend an, doch sie schien zu spüren, dass Pia diesmal die Wahrheit sagte, denn sie ging nicht weiter auf das Thema ein, sondern nickte nur knapp, zog ihre Zigarettenpackung aus der Tasche und klappte sie auf.
»Lass das«, sagte Pia.
»Weil es ungesund ist?«, fragte Alica schnippisch. Aber sie steckte die Schachtel immerhin gehorsam wieder ein.
»Weil wir so wenig auffallen sollten wie möglich«, antwortete Pia.
»Ah ja, und da macht es einen Unterschied, ob ich rauche oder nicht. Weil eine anständige Frau ja in der Öffentlichkeit nicht raucht, nicht wahr?«
Vermutlich machte es keinen Unterschied, gestand Pia sich ein. Sie erregten auch so schon genug Aufsehen, zwei junge Frauen, beinahe noch Mädchen, die ziemlich leicht bekleidet mitten in der Nacht allein unterwegs waren, barfuß und in einer Gegend, in der sie sich auch tagsüber schon nicht besonders wohlgefühlt hätte. Das hier waren nicht die Favelas, wie sie die Stadtverwaltung gerne heraufbeschwor, wenn sie wieder einmal nach einem Vorwand suchte, ihre Bagger und Schlägertrupps der Polizei loszuschicken, aber auch nicht die, die man den Touristen zeigte (wenn man sie in gepanzerten Bussen mit kugelsicheren Scheiben herkarrte), sondern eine einfache Gegend mit noch einfacheren Häusern, die meisten davon klein und ärmlich, aber aus Stein gebaut statt aus Holz und Wellblech. Auf den Straßen lagen keine Abfälle, und nur in den allerwenigsten Häusern lebten gemeingefährliche Kriminelle, vermutete Pia … aber um diese Uhrzeit und allein hätte sie sich nicht einmal im Stadtzentrum und auf der Hauptstraße wohlgefühlt. Es war nach drei. Seit zehn Minuten waren sie an keinem einzigen Haus vorbeigekommen, in dem noch Licht gebrannt hatte, und den letzten Menschen waren sie vor etwa zwanzig Minuten begegnet; genauer gesagt, aus dem Weg gegangen.
Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ihre Hand tastete nicht zum ersten Mal nach der Waffe in ihrem Hosenbund und strich über den verchromten Griff. Die Pistole hatte ihnen beiden vor einer Stunde vermutlich das Leben gerettet, aber das Gefühl von Beruhigung oder gar Sicherheit, die sie ihr doch eigentlich vermitteln sollte, wollte sich einfach nicht einstellen.
»Hast du mittlerweile wenigstens eine Idee, wohin wir gehen?«, fragte Alica … auch nicht zum ersten Mal.
Pia suchte nach einer Ausrede, die vermutlich noch fadenscheiniger war als die zuvor, doch in diesem Moment kam ihr das Schicksal zu Hilfe; oder die PanAm, Lufthansa, British Airways oder wem auch immer der Passagierjet gehörte, der im Tiefflug über die Dächer hereingedonnert kam und zur Landung ansetzte. Das Getöse machte nicht nur für eine oder zwei Minuten jede Unterhaltung unmöglich, sondern brachte Pia auch auf eine Idee.
»Hast du nicht gesagt, dass ihr früher direkt am Flughafen gewohnt habt?«, fragte sie, nachdem ihre Ohren aufgehört hatten zu klingeln.
Alica sah sie zwar ein wenig misstrauisch an, aber sie nickte.
»Dann gehen wir dorthin. Du hast doch bestimmt noch Freunde dort, oder?« Falls jemand wie Alica Freunde hatte.
»Ein paar«, antwortete Alica widerwillig. »He, ich werde ganz bestimmt keinen von meinen Freunden in diese Geschichte reinziehen! Du glaubst doch nicht, dass ich ihnen die Peraltas auf den Hals hetze!«
Pia glaubte schon lange nicht mehr, dass die drei sonderbaren Männer, vor denen sie geflohen waren, auch nur irgendetwas mit den Peraltas oder irgendeiner anderen Mafia-Familie zu tun hatten. Hier ging etwas vollkommen anderes vor.
»Wir ziehen sie nicht in irgendetwas rein«, sagte sie. »Aber wir brauchen jemanden, der uns hilft. Ein Versteck, und wenn es nur für heute Nacht ist. Morgen versuchen wir irgendwie, mit Esteban Verbindung aufzunehmen, und dann sehen wir weiter. Die Peraltas wissen doch gar nichts über dich. Und ganz bestimmt nichts über deine Freunde.«
Alica wirkte nicht überzeugt.
»Nur für heute Nacht«, sagte Pia. »Irgendwo müssen wir ja unterkriechen. Oder hast du Geld für ein Taxi oder ein Hotel dabei?«
Alica sah demonstrativ an sich herab. Abgesehen von sich selbst hatte sie so ziemlich nichts dabei; gar nicht davon zu reden, dass das nächste Taxi ebenso unerreichbar weit weg war wie das nächste Hotel. Schließlich hob sie widerwillig die Schultern, fuhr plötzlich zusammen und sah sich hastig nach rechts und links um, als ein Scheppern an ihr Ohr drang, gefolgt von einem lang anhaltenden Echo, das beinahe lauter zu sein schien als das eigentliche Geräusch. Zwei oder drei Atemzüge später huschte eine schwarze Katze vor ihnen über die Straße und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Alica runzelte die Stirn. »War das jetzt von links nach rechts oder von rechts nach links?«, fragte sie.
»Was?«
»Bedeutet es nun Unglück, wenn einem eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg läuft, oder von rechts nach links?«, wiederholte Alica.
»Das kommt ganz darauf an, wie laut man diese Frage stellt, wenn man als Frau mitten in der Nacht allein in der schlimmsten Gegend von Rio de Janeiro unterwegs ist«, antwortete Pia ernsthaft.