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»Aber ich bin doch gar nicht allein«, sagte Alica. Immerhin sagte sie es deutlich leiser. »Supergirl ist ja bei mir.«

Pia lächelte zwar pflichtschuldig, aber ihr Blick tastete gleichzeitig aufmerksam die Straße vor ihnen ab. Sie war ganz und gar nicht sicher, dass das Geräusch, das sie gehört hatten, tatsächlich nur von einer Katze verursacht worden war, ob sie nun von rechts nach links über die Straße gelaufen war oder von links nach rechts. Sie wurden beobachtet, das konnte sie fast körperlich spüren. Aber zu sehen war nichts.

»Was machen wir eigentlich, wenn Esteban tot ist?«, sagte Alica nach einer Weile. Sie waren wieder schweigend nebeneinander hergegangen, und vielleicht stellte sie diese Frage nur, um die unheimlich hallenden Echos zu übertönen, die ihre nackten Füße auf der Straße erzeugten.

»Ist er nicht«, antwortete Pia ruppig.

»Ich weiß«, sagte Alica. »Aber wenn. Ich frage ja nur. Du kennst doch die Peraltas. Gut möglich, dass sie sich an ihm ausgelassen haben, weil sie uns nicht kriegen konnten.«

Pia kannte die Peraltas nicht, ebenso wenig wie Alica, und sie glaubte mit jeder Sekunde weniger, dass sie es überhaupt mit Leuten der Mafia-Familie zu tun hatten. Die drei Männer hatten es eindeutig auf sie abgesehen gehabt, aber es war ihnen nicht um irgendwelche Drogen oder gar Geld gegangen. Die Peraltas waren zwar ebenso brutal wie rücksichtslos und sie waren echte Südamerikaner, was bedeutete, dass sie ziemlich komisch reagieren konnten, wenn es um das ging, was sie für ihre Ehre hielten … aber so schnell nun auch wieder nicht.

Vielleicht war es Zeit, mit den Freundlichkeiten aufzuhören. »Die Frage ist wohl eher, was du machst, wenn Esteban irgendetwas zustoßen sollte«, sagte sie. Früh selbstständig geworden, war es ihr niemals schwergefallen, sich allein durchzuschlagen. Im Moment erschien es ihr zwar wenig ratsam, in das kleine, zweigeschossige Haus im Süden der Favelas zurückzukehren, das sie zusammen mit Jesus bewohnte, aber das bereitete ihr eigentlich die geringsten Sorgen.

»Ich?« Alica machte ein ehrlich überraschtes Gesicht. »Also, darüber … habe ich noch gar nicht nachgedacht«, gestand sie.

Pia schenkte ihr einen fast mitleidigen Blick. »Hast du nicht? Wie lange bist du jetzt schon mit ihm zusammen?«

»Ein knappes Jahr. In einer Woche haben wir unser Jubiläum.«

»Dann gehörst du ja zu den Rekordhalterinnen«, sagte Pia. Das Scheppern wiederholte sich, etwas lauter jetzt, und diesmal huschte keine Katze über die Straße, gleich welcher Farbe. Pia versuchte das Geräusch irgendwie zu ignorieren. »Esteban hat es selten länger als ein Jahr mit einer Frau ausgehalten. Ich an deiner Stelle würde allmählich anfangen, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen.«

»Das waren die anderen«, sagte Alica und machte eine zugleich überzeugte wie wegwerfende Geste. »Du willst mich doch nicht mit diesen kleinen Flittchen vergleichen, mit denen er vorher zusammen war? Ich habe ein paar Tricks auf Lager, um Esteban bei der Stange zu halten …«, sie kicherte, »… von denen du nicht einmal zu träumen wagst.«

Und von denen sie auch gar nichts wissen wollte. Pia beließ es bei einem weiteren schrägen Blick und ging ein wenig schneller. So wie sie Esteban kannte, würde er wahrscheinlich noch ihren Jahrestag abwarten und ihr einen Blumenstrauß geben, sein übliches großzügiges Abschiedsgeschenk, und sie dann in die Wüste schicken. Sie zerbrach sich den Kopf über eine möglichst diplomatische Art, Alica ihre Bedenken beizubringen, blieb dann stattdessen plötzlich stehen und zog die junge Frau blitzschnell in den Schatten eines Torbogens.

»Was …?«, keuchte Alica. Pia legte ihr schon wieder hastig die Hand über Mund und Nase und machte mit der anderen eine erschrockene Geste. Alica wollte ihre Hand zwar wegschieben, gab aber wenigstens keinen Laut mehr von sich.

Pia blieb etliche Sekunden völlig reglos und mit geschlossenen Augen stehen und lauschte. Sie versuchte, die übernatürliche Schärfe ihrer Sinne noch einmal herbeizuzwingen, aber im ersten Moment schien sie eher das Gegenteil zu erreichen. Sie hörte nur noch das schnelle Hämmern ihres eigenen Herzens, und die Nacht schien sich zu einer schwarzen Wand zu verdichten, hinter der sie rein gar nichts mehr sah.

»Was ist denn los?«, nuschelte Alica unter ihrer Hand hervor. Gottlob so leise, dass Pia die Worte eher erriet als verstand.

Statt zu antworten, nahm sie behutsam die Hand herunter und beugte sich noch behutsamer vor, um einen Blick zu riskieren. Alles war still. Die Häuser beiderseits der Straße lagen nach wie vor dunkel und still da, wie Mauern aus massiver Schwärze, hinter denen die Welt einfach aufgehört hatte zu existieren. Nichts rührte sich. In der ersten Sekunde.

In der zweiten erschien ein struppiger Schatten am Ende der Straße.

»Das … das kann doch nicht wahr sein!«, ächzte Alica. Pia hatte nicht einmal gemerkt, dass sie sich ebenfalls vorgebeugt hatte. »Wie haben die Kerle uns gefunden?«

Pia bedeutete ihr ganz instinktiv mit Gesten, still zu sein, aber ihr schoss dieselbe Frage durch den Kopf. Sie waren über eine Stunde kreuz und quer durch die Straßen gelaufen, zum Teil gerannt, und inzwischen hatten sie sich hoffnungslos verirrt. Es war ganz und gar unmöglich, dass jemand ihrer Spur gefolgt war.

Und doch war es so. Pia konnte die Gestalt nach wie vor nur als schwarzen Schatten erkennen, aber es gab nicht den geringsten Zweifel. Die Favelas wimmelten von schrägen Gestalten, doch sie kannte sonst niemanden, der in Fellumhängen umherlief und eine Keule am Gürtel trug.

»Und was tun wir jetzt?«, flüsterte Alica.

Auf jeden Fall keine dummen Fragen mehr stellen, dachte Pia. Ihr Blick tastete immer unsteter über die Straße, suchte nach einem Versteck oder einem Fluchtweg. Die Schatten wären tief genug gewesen, um sie vor jedem neugierigen Blick zu beschützen, hätten sie es mit normalen Verfolgern zu tun gehabt. Was sie nicht hatten, wie sich Pia eher betrübt als wirklich erschrocken eingestand. Sie tat wirklich gut daran, wenn sie allmählich damit anfing, diesen Kerlen mehr als ihre normalen menschlichen Sinne zuzubilligen. Vielleicht hatten sie ihre Spur ja tatsächlich gewittert wie Bluthunde, oder ihnen standen noch andere, viel unglaublichere Methoden zur Verfügung, ihre Beute aufzuspüren. Verrückt genug, aber warum das so war, darüber sollte sie sich vielleicht besser den Kopf zerbrechen, wenn sie ihnen endgültig entkommen waren. Falls sie ihnen entkamen. Pia war längst nicht mehr sicher, dass ihnen das Kunststück auch gelang.

Sie sah in die andere Richtung und war noch weniger sicher.

Auch dort war ein Schatten erschienen.

Eigentlich spürte sie seine Anwesenheit viel mehr, als dass sie ihn sah, aber sie wusste einfach, dass er da war. Basta.

Und das konnte nur eines bedeuten: Sie saßen in der Falle.

Ihr Blick suchte noch einmal die Schatten in beide Richtungen ab, versuchte ein Versteck zu finden, einen Durchlass, eines jener schmalen Gässchen, die es überall hier gab und die diese Gegend in ein Labyrinth verwandelten, in dem sich selbst ein Einheimischer hoffnungslos verirren konnte. Ausgerechnet hier schien es keine zu geben, und vielleicht war es nicht einmal Zufall, dass die beiden Männer gerade jetzt hier auftauchten.

Pia verbesserte sich in Gedanken. Nicht vielleicht. Es war ganz bestimmt kein Zufall.

Panik wollte sich in ihr breitmachen, aber das ließ sie nicht zu, sondern zwang sich ganz im Gegenteil zu noch größerer Ruhe. Es war nicht einmal lange her, dass sie und Jesus sich in einer ganz ähnlichen Situation befunden hatten. Gut, sie waren nicht von Steinzeitmenschen mit Keulen und Macheten verfolgt worden, aber Hernandez und seine Schläger waren im Grunde keinen Deut weniger gefährlich gewesen. Und eigentlich, das spürte sie, war sie ihnen nur entkommen, weil sie es einfach wollte.